archivierte Ausgabe 1/2021 |
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Editorial |
DOI: 10.14623/thq.2021.1.1–5 |
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Michael Theobald |
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Um dem auf Glück und Heil des Menschen sinnenden Gott der Bibel zu entsprechen, bedarf es nicht nur der sozialen Dimension einer Gemeinschaft, sondern auch eines Ortes samt Ressourcen wie Wasser und Licht, Erde und Früchten, an dem Gottes Idee vom Menschen gelebt und verwirklicht werden kann. Darum weiß schon die Genesis, wenn sie im Anfang erzählt: „Gott, der Herr, nahm den Menschen und gab ihm seinen Wohnsitz im Garten von Eden, damit er ihn bearbeite und hüte“ (Gen 2,15). Dieser Grundgedanke schöpfungsgemäßer Verwurzelung des Menschen als Bedingung seiner Entfaltung findet unter dem Vorzeichen der Erwählung Gottes eines Volkes unter anderen in der großen Erzählung vom Werden Israels im Pentateuch und den Vorderen Propheten (Gen bis 2Kön) seine dramatische Konkretisierung und Zuspitzung: Israel erhält aufgrund von Gottes Zusage an die Väter ein Land zum Lehen (Dtn 9,4f.) mit allen Verpflichtungen, die dieses gemäß der Tora vom Sinai einschließt, sieht sich am Ende dieser Großerzählung aber genötigt, den Verlust der Heilsgabe einzugestehen.
Die Polarität von Land und Diaspora bestimmt fortan die prekäre Existenz des Gottesvolks. Der kurzen Spanne des Landverlusts zwischen erstem und zweitem Tempel stehen beinahe zweitausend Jahre leidgeprüfter Diasporaexistenz nach der Zerstörung des zweiten Tempels 70 n. Chr. bzw. der Umwandlung Jerusalems in das heidnischrömische Aelia Capitolina nach dem Bar-Kochba-Aufstand (132–135 n. Chr.) gegenüber. Erst infolge der Französischen Revolution erhalten Juden in Westeuropa zögerlich bürgerliche Rechte, gleichzeitig wächst der Antijudaismus bedrohlich. Im späten 19. Jahrhundert setzen im Zeichen des Zionismus erste Einwanderungen unterdrückter Juden vor allem aus Osteuropa und Russland ins osmanische Palästina ein. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs erklärt Großbritannien in der Balfour-Deklaration vom 2. November 1917 seine Zustimmung zum 1897 festgelegten Ziel des Zionismus, in Palästina eine „nationale Heimstätte“ des jüdischen Volks zu errichten, unter Wahrung „der Rechte bestehender nicht-jüdischer Gemeinschaften“. Chaim Weizmann (1874–1952), der spätere Präsident der Zionistischen Weltorganisation und Israels erster Staatspräsident, schließt am Vorabend von Versailles am 3. Januar 1919 mit Emir Faisal, Militärführer der arabischen Revolte gegen die Osmanen, ein Abkommen zur jüdischen Einwanderung nach Palästina bei gleichzeitiger Kontrolle des Islam über seine heiligen Stätten – unter der Voraussetzung, dass die von den Briten zugesagte Unabhängigkeit der Araber auch tatsächlich verwirklicht wird. „Wir werden den Juden ein herzliches Willkommen in der Heimat entbieten […]. Die jüdische Bewegung ist national und nicht imperialistisch und es gibt in Syrien für jeden von uns Platz. Ja, ich bin der Ansicht, dass keinem ohne den anderen ein echter Erfolg beschieden sein kann“ (Faisal).
Das Abkommen war chancenlos. Frankreich und Großbritannien teilten sich den Nahen Osten in ihre Einflussbereiche auf. Unter der Schirmherrschaft des Völkerbundes bzw. dem britischen Mandat für Palästina wuchs eine jüdische Community heran, die Konflikte mit den Arabern nahmen zu.
Der Völkermord von über sechs Millionen Juden in Europa, Zivilisationsbruch von unvorstellbarem Ausmaß, bedeutet eine tiefe Zäsur. Nach Überwindung der hohen Schranken für Überlebende der Shoah, in Palästina einzuwandern, und gestützt auf den Uno-Teilungsplan für Palästina von 1947, kam es am 14. Mai 1948 unter Widerstand der arabischen Seite zur Gründung des Staates Israel. Unmittelbar anschließend musste das junge Gemeinwesen seine Existenz im sog. „Unabhängigkeitskrieg“ gegen die arabische Welt verteidigen. Die einheimischen Palästinenser erlebten dies als Nakba, als Katastrophe, war doch die Staatsgründung für sie mit Verlust von Land verbunden. Aber die Geschichte war unwiderruflich in eine neue Phase getreten, das weltweite Judentum hatte mit Eretz Israel seine völkerrechtlich anerkannte Mitte erlangt. Jetzt galt es, das Gemeinwesen zu organisieren und zu stabilisieren, auch den eigenen Ort im Land zu finden unter Regelung der Nachbarschaft mit den arabischen Einwohnern.
Inzwischen ist Israel über 70 Jahre alt und der „Nahostkonflikt“ alles andere als gelöst. Im Rückblick erscheint der „Sechs-Tage-Krieg“ vom Juni 1967 in vielfacher Hinsicht als der entscheidende Wendepunkt der jüngeren Geschichte. Der für Israel triumphale Ausgang des Präventivschlags, der mit der Eroberung des Westjordanlandes zentrale biblische Orte wie Hebron, Betlehem, Jericho, Bet-El, Sichem (Nablus) und vor allem ganz Jerusalem unter israelische Herrschaft brachte, befeuerte die Siedlerbewegung, veränderte Israels Wahrnehmung in aller Welt und ist mit Grund für die Grenzkonflikte im Land bis heute. Die Hoffnungen, die der Oslo-Friedensprozess 1993–1995 nach der ersten Intifada 1987–1991 weckte, wurden durch die Ermordung Yitzchak Rabins in Tel-Aviv am 4. November 1995 jäh gedämpft. Der Friedensprozess geriet ins Stocken, die Fronten verhärteten sich, die zweite Intifada 2000–2005 schürte den Hass. Heute ist das Land gespalten, ja fragmentiert. Der säkularen Weltstadt Tel-Aviv steht ein Jerusalem gegenüber, das in seinem Erscheinungsbild mehr denn je von den Religionen bestimmt wird. Die ultraorthodoxen Juden stellen inzwischen zwölf Prozent der Bevölkerung in Israel, ein Machtfaktor, ohne dessen Berücksichtigung keine Politik mehr möglich ist. Eine Zwei-Staaten-Lösung ist in weite Ferne gerückt, Israels Bedrohung, z. B. durch den Iran, besteht nach wie vor. In Ostjerusalem und im Westjordanland breiten sich jüdische Siedlungen aus. Annexionspläne liegen in den Schubladen und werden aus diplomatischen Gründen nach inzwischen erfolgter Anerkennung Israels durch Bahrein, die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar u. a. zurückgehalten. Teile des Landes sind anscheinend zur politischen Verhandlungsmasse geworden, die Frage von Recht und Gerechtigkeit für die Palästinenser ist von der Tagesordnung verschwunden.
Das hier vorliegende Heft zum „Land Israel“ dreht sich nicht um Politik und den Nahostkonflikt, sondern möchte zur komplexen Land-Problematik biblische, historische und theologische Informationen bieten, wohl wissend, dass diese politisch nicht „unschuldig“ sein können. Das Interesse richtet sich auf eine christliche Theologie des Landes, zu der es erste Ansätze gibt, die aber aufzugreifen und weiter zu entwickeln sind. Voraussetzung dafür ist, diverse Stimmen auch der „Anderen“ umfassend zur Kenntnis zu nehmen und zu würdigen, was in diesem Heft nur sehr begrenzt geschehen kann. Eigentlich müssten auch jüdische Theologen der Diaspora, Muslime und palästinensische Christen zu Wort kommen. Die äußerst prekäre Lage letzterer im Land und ihre Schwierigkeiten mit dem Thema „Landverheißung“ bleiben indes nicht völlig außen vor (Röwekamp; Rutishauser).
Joachim J. Krause befasst sich mit theologischen Geografien in der Hebräischen Bibel. Was verstand man im alten Orient unter einer Grenze? Wie wurde Gebiet abgegrenzt und markiert? Unter Rekurs auf die Kultur- und Sozialwissenschaften arbeitet er zwei hauptsächliche Vorstellungen heraus, Border-Konzeptionen, die Herrschaftsgebiete voneinander abgrenzen unter Anerkennung von Herrschaftsansprüchen jenseits wie diesseits der Grenze (Multizentrismus), und Frontier-Konzeptionen, die das Jenseits des eigenen Gebiets gleichsam als Leerraum, als zu besiedelndes und kultivierendes Land betrachten (Monozentrismus). Fällt von der zweiten Konzeption her Licht auf die sog. euphratischen Verheißungen der Bibel, so wird die Vorstellung des verheißenen Landes in der Regel vom ersten Modell dominiert. Der Beitrag hilft, mit schwierigen Texten des Alten Testaments besser umzugehen, enthält aber auch Anstöße, wie Grenzen im Land heute verstanden werden könnten.
Rebekka Groß befasst sich mit der Land-Thematik im Neuen Testament. Diese spielt in den neutestamentlichen Schriften deswegen keine besondere Rolle, weil die theologische Bedeutung des Landes selbst nach der Zerstörung Jerusalems 70 n. Chr. noch als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Erst mit dem Bar-Kochba-Aufstand 135 n. Chr. tritt eine Wende ein. Zu berücksichtigen ist auch, dass es im Judentum schon lange vor 70 n. Chr. Ansätze zu einer Transzendierung oder Apokalyptisierung des Landes bzw. Jerusalems („himmlische Stadt“) gegeben hat, an die z. B. der Hebräerbrief anknüpfen konnte. Unter den exemplarisch vorgestellten Texten kommt der Rede des Stephanus (Apg 7,2–53) eine besondere Rolle zu: Der Autor der Apostelgeschichte thematisiert nicht nur das „Wohnen“ im Land, sondern zeigt überdies an der Josefsgeschichte (Apg 7,9–17), dass auch in fremden Ländern Gott anwesend und auch dort ein gutes und erfolgreiches Leben möglich ist.
Georg Röwekamp geht in seinem patristischen Beitrag der doppelten Fragestellung nach, wie sich in der Spätantike das Konzept eines christlichen „Heiligen Landes“ entwickelt hat und was dessen „Erfindung“ für Christen heute bedeuten könnte. Nach einem eher diffusen Bild der Zeit vor Konstantin beginnt nach Nizäa dank der Bautätigkeit des Kaisers in Jerusalem und Bethlehem eine Erinnerungslandschaft in ganz Palästina zu entstehen, die Ende des vierten Jahrhunderts zu einer ersten Pilgertätigkeit führt mit der Folge, dass aus einem unspezifischen Konzept von „heiligen Orten“ eine spezifisch christliche Verehrung „heiliger Stätten“ wird. Cantus firmus bleibt indes der Vorbehalt des Gregor von Nyssa: „Nähe zu Gott schafft nicht die örtliche Veränderung, sondern Gott wird, wo immer du sein magst, zu dir kommen.“ Heute sind die „heiligen Stätten“ Teil des „kollektiven Gedächtnisses“ der Christen. Ganz unabhängig von der Frage, ob deren Lokalisierung historisch korrekt ist, kann Röwekamp zufolge für Pilgerinnen und Pilger das an sich indifferente Land eine „sakramentale Qualität“ gewinnen, wenn es zusammen mit dem Wort, der deutenden Erzählung, zu einem religiösen Erfahrungsort und in diesem Sinne zu einem „fünften Evangelium“ wird.
Tamar A. Avraham befasst sich mit jüdischen Deutungen der israelischen Eroberung und Besiedlung des Westjordanlandes seit 1967. Kernfrage ist das messianische Verständnis der Sammlung der Verbannten im Land aus den vier Enden der Welt. Jahrhundertelang galt im Judentum die Sehnsucht nach dem Anbruch des messianischen Zeitalters als eine auf göttliches Eingreifen gerichtete Hoffnung. Deshalb erteilten auch die Rabbinen zunächst dem säkularen Zionismus, dessen aktives Hinwirken auf einen Judenstaat Gott gleichsam in den Arm zu fallen schien, eine Abfuhr, besannen sich aber schon bald auf das biblische Gebot der Inbesitznahme des von Gott verheißenen Landes. Der Gewinn des eigentlichen Kerns von Eretz Israel im „Sechs-Tage-Krieg“ verhalf einem akuten Messianismus zum Durchbruch, wobei im Hintergrund stets Maimonides (1135–1204) mitzuhören ist, dem zufolge nicht Änderungen der Schöpfungsordnung wie der von Jesaja verheißene Tierfrieden die messianische Zeit heraufführen, sondern schon das Ende der Knechtschaft Israels unter den Völkern. Die Autorin zeigt, wie die Siedlerbewegung die Tora als Weisung für die Endzeit unvermittelt in Politik umzusetzen sucht.
Christian M. Rutishauser SJ widmet sich der Frage nach einer Deutung von Land und Staat Israel in der Katholischen Theologie und damit dem eigentlich neuralgischen Punkt im gegenwärtigen jüdisch-katholischen Dialog. Er skizziert die Positionen des Vatikans seit dem Zweiten Weltkrieg bis zur völkerrechtlichen Anerkennung des Staates Israel 1993 und erklärt die Abstinenz des Vatikans bis heute, sich zur Rückkehr der Juden ins Heilige Land und zum Staat Israel theologisch zu äußern, mit der Rolle, die er diplomatisch als Subjekt des Völkerrechts einnimmt. Nach einer beinahe 2000 Jahre währenden Deutung der Heimatlosigkeit der Juden als Strafe Gottes für die Ablehnung Jesu war die Theologie lange zunächst sprachlos und verlegen. Im Unterschied zu den Kirchen der Reformation beginnt sie katholischerseits erst in jüngster Zeit, sich der Problematik systematisch zu stellen. In Anknüpfung an erste Ansätze entwickelt der Autor Kriterien, Perspektiven und Leitlinien einer Theologie des Landes, die er abschließend zu einem eigenen Entwurf zusammenführt. Wie Röwekamp benutzt auch er die Kategorie des „Sakramentalen“, im Unterschied zu diesem aber nicht auf das Land, sondern das Volk bezogen: „Kirche und das jüdische Volk wissen sich von Gott je durch die Geschichte hindurch getragen, um aneinander ‚Sakrament des Andern‘ zu werden.“ Unter der Rubrik „Kritisches Forum“ gewährt zuletzt Martin Kloke einen informativen Einblick in den fundamentalistischen Zionismus evangelikaler Prägung, christliches Gegenstück zur israelischen Siedlertheologie. Nicht wenige „Christen an der Seite Israels“ sehen in der Gründung des Staates Israel 1948 den Anbruch der messianischen Endzeit, erwarten die baldige Wiederkunft des Messias und setzen darauf, dass „ganz Israel“ zu dessen Erkenntnis gelange. Doch Philosemitismus kann unversehens in Antisemitismus umschlagen: „Überschwängliche Zuneigung gebiert Enttäuschung über ‚Fehlverhalten‘.“
Möge das Heft auf dem Weg zu einer Theologie des Landes Israel Impulse setzen und allen, die das Land lieben und mit ihm leiden, auch Pilgerinnen und Pilgern ins „Heilige Land“, Denkanstöße und Anregungen bieten.
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