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Leseprobe 3 DOI: 10.14623/thq.2015.3.227-254
Uwe Daher
Theologie am Ort der Erwerbsarbeit
Zusammenfassung
Im Beschluss der Würzburger ‚Synode Kirche und Arbeiterschaft‘ (1975) verpflichtet sich die bundesdeutsche Kirche, die Wirtschaftsweise und die Arbeitsbedingungen der abhängig Beschäftigten Menschen besser zu verstehen, um deren Lebenswirklichkeit zu erfassen und sie als Adressaten der Frohen Botschaft erreichen zu können. Vierzig Jahre nach diesem Beschluss soll ein geeigneter Zugang zur Erwerbsarbeit eröffnet werden, indem die Einblicke und Reflexionen von BetriebsseelsorgerInnen und Arbeitergeschwistern auf dem Wege qualitativer Sozialforschung erhoben werden. Am Ort der Erwerbsarbeit werden so Ansätze einer Theologie über Erwerbsarbeit sichtbar.

[...]

4. Bedeutung der erforschten Theologien für eine Theologie der Erwerbsarbeit

Während in den Debatten der Gegenwart die soziale Inklusion über Lohnarbeit und die biografischen Chancen betont werden, die mit einer ausgeübten Erwerbsarbeit einhergehen, erfahren die Theologinnen und Theologen eine exkludierende Wirkung der Erwerbsarbeit und deren destruktive Folgen. Bei einer solchen Betrachtung bleiben wichtige Aspekte der Erwerbsarbeit unterbelichtet. Zu nennen sind die Freude an fachmännischer Arbeit, der Rückgang einer monotonen Arbeitspraxis – durch neue technische Möglichkeiten, schlussendlich durch eine Requalifizierung der Industriearbeit – und die Wertschätzung von Unternehmenskulturen, die auf Gruppenarbeit, neue Vertrauensbeziehungen, den Abbau hierarchischer Kontrolle und die verstärkte Autonomie der Mitarbeiter und die Subjektivierung der Arbeit setzen, die positiv erlebt wird, sofern selbst gesetzte Ziele und flexible Arbeitszeiten möglich sind. Diese und ähnliche Neuerungen werden von den Theologinnen und Theologen nicht ignoriert; aber sie werden vor allem als Ursachen für neues Leiden der Beschäftigten, für Überforderungen, für Entsolidarisierung oder Entfremdung gesehen. Gerade wegen dieser überzeichneten Darstellungen werden die verwendeten Ansätze der Betriebsseelsorger und Arbeitergeschwister jenseits des Ortes ihrer Entstehung nur schwer verständlich werden. Und doch ist ein Teil der abhängig Beschäftigten eben dieser Realität ausgesetzt. Sicher sind solche Beobachtungen mit den spezifischen Orten verbunden, an denen besonders negative Konditionen herrschen und an denen die Theologinnen und Theologen bewusst präsent sind. Doch die dort entwickelte Sicht- und Handlungsweise eröffnet eine wertvolle Erkenntnis: In der Diskussion, dass es im Großen und Ganzen gut sei, dass Menschen eine Erwerbsarbeit ausüben (vgl. Große Kracht 2009, 71), weil „mit ihr ein sozial anerkannter Mechanismus zur Verfügung steht, um sich selbst Identität und Sinn zu verschaffen“ (Kreutzer 2011, 105), werden nämlich allzu leicht jene übersehen, die unter den gegenwärtigen Konditionen der Erwerbsarbeit leiden. Die Rhetorik der letzten Jahre, es sei die Hauptsache, Arbeit zu haben, kann sie nicht überzeugen. Als wichtiges Ergebnis bleibt daher erkennbar, dass eine Theologie, die am Ort der Erwerbsarbeit entstanden ist, die integrative Funktion der Erwerbsarbeit relativiert. Die Arbeit der Menschen scheint sinnentleert, wenn trotz Arbeit Lebenserwerb und soziale Beteiligung infrage stehen. Festzustellen sind „soziale Verwerfungen, Probleme der individuellen Lebensführung und Probleme der gesellschaftlichen Integration“ (Möhring-Hesse 2000, 93). Vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ist es unter den gegenwärtigen Bedingungen der Erwerbsarbeit nicht möglich, ein Miteinander in den Betrieben zu entwickeln und auch im privaten Umfeld fehlen Kraft, Vertrauen und Zeit, um auf Andere zuzugehen. Ein christliches Leben, ein Leben in der Nachfolge Jesu, müsse aber „ein äußerst waches Bewußtsein und eine äußerste Wahrnehmungsfähigkeit für andere Menschen, ein neues Sehen des anderen, das seine Ängste und seine Hoffnungen erkennt“, entwickeln, damit ein Miteinander möglich ist, das die Welt verändern könne (vgl. Sölle 1968, 57). Stattdessen bleibt in den vielfältigen Beziehungen der Menschen ein beachtliches Gestaltungspotenzial ungenutzt und ein Miteinander wird nicht entfaltet. Es fehlen Möglichkeiten, im gemeinsamen Tun sich selbst, den Anderen und die Umwelt zu entdecken sowie auf die Wirklichkeit Gottes zu schließen. Das Heil, das von Gott erwartet werden kann, bleibt an solchen Orten der Erwerbsarbeit verborgen und die Vorstellung, dass in der Mitte des Lebens das Reich Gottes anbrechen könnte, scheint in einem Umfeld des Leidens und der Entfremdung wenig plausibel.

Diese „Entfremdung ist keineswegs eine ewigwährende Eigenart, die in der schöpfungsmäßig gegebenen Natur des Menschen läge, sie tritt vielmehr auf dem Schauplatz des ‚historischen Projekts‘ in Erscheinung, und allein dort wird sie überdauern oder überwunden werden“ (Sölle 1985, 75).

Um Menschen in ihren konkreten Situationen der Geschichte und der Lebensgeschichten zu erreichen, müssen Kirche und Theologie die ökonomischen und politischen Prozesse kritisch begleiten, indem sie auch jene in den Blick nehmen, die dabei ins Hintertreffen geraten. Als gesellschaftliche Institution kann Kirche, „die das Gewicht eines global player einbringen kann“, aktiv werden (vgl. Sander 2010, 110) und für die Menschen optieren, die erschöpft und kraftlos, ohne Macht und Einfluss sind. Auf diese Weise kann ein wichtiger Beitrag zur gerechten Fortentwicklung der Gesellschaften geleistet werden. Die befragten Theologinnen und Theologen sind ein gutes Beispiel für eine Kirche, die unter den Vorzeichen der Gerechtigkeit aktiv wird und die am Werden des Gottesreiches mitwirken muss und will. Obwohl die Ökonomie der Gegenwart als eine menschengemachte, festgefügte und dominante Ordnung erfahren wird, die übermächtig scheint, die die konkrete Erwerbsarbeit, die persönliche Lebensführung, die Familie und die Gesellschaft in Mitleidenschaft zieht, bieten die Theologinnen und Theologen zugleich Verhaltensweisen an, die den Zustand der Machtlosigkeit überwinden und so der festgestellten problematischen Entwicklung begegnen. Betriebsseelsorger und Arbeitergeschwister

(I) suchen die Nähe und das Gespräch mit denen, die unter ihrer Tätigkeit oder dem Verlust ihrer Arbeit leiden,

(II) öffnen den Blick auf Strukturen, die dazu beitragen, dass Beziehungen gestört sind, sodass eine Entfremdung vom Selbst (zur eigenen Arbeitspraxis und zur tatsächlichen Leistungskraft), eine Beziehungsarmut gegenüber den Kollegen, den Familienmitgliedern und im sozialen Umfeld ausgebildet wird,

(III) relativieren die Logik der Betriebswirtschaft, in der Anliegen der Menschen ausgeblendet werden. Infolgedessen werden notwendige Entwicklungsgrundlagen, Zeit und Vergütung, eine gesunde Umwelt, Kreativität und Muße neu bewertet,

(IV) regen durch Kontakt und Dialog neue Beziehungen an. Indem Menschen zusammenfinden, können sie gemeinsam neue Handlungsmacht gewinnen;

(V) wirken der spirituellen Beziehungslosigkeit entgegen. Sie schaffen Raum für eine Gotteserfahrung durch persönliches Da-Sein und durch ihre Anteilnahme.

So zeigen die Theologinnen und Theologen eine Praxis, durch die eine dem Heil besonders widerständige Welt doch dem von Gott her gewollten Heil aufgeschlossen wird. Über diese Praxis findet auch die Theologie einen Zugang zu all jenen Menschen, die im Kontext der Lohnarbeit leiden und denen die vermeintlich glückliche Fügung, überhaupt eine Beschäftigung zu haben, zum Schaden wird. Durch die Einblicke der Betriebsseelsorger und der Arbeitergeschwister wurden solche Situationen sichtbar gemacht und sie können als Auswirkungen der bestehenden Ökonomie gedeutet werden. Die in der Synodenschrift nahegelegten Erkundigungen am Ort der Erwerbsarbeit zeigen aber, dass die „Kontaktnahme“ (KA 1975, 340) mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern über den Anspruch hinausgeht, ein besseres „Verständnis von der gegebenen Gesellschaft, von deren Struktur und [ihren] Abläufen“ (ebd.) zu gewinnen. Wenn an den konkreten Orten der Erwerbsarbeit zu erkennen ist, dass unter den gegenwärtigen Bedingungen Probleme auftreten, die sich für einige „ungleich belastender auswirken als für andere“ (ebd.), ist ein weiteres Anliegen der Synodenschrift erreicht: Indem die Geschädigten in den Blick genommen werden und Zuwendung erfahren, lassen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse zum Besseren gestalten und „falsche Einstellungen und Verhaltensweisen, die die christliche Brüderlichkeit verletzen, überwinden“ (ebd.). [...]


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