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Leseprobe 3 DOI: 10.14623/thq.2015.2.167-186
Matthias Möhring-Hesse
Barmherzige Gerechtigkeit
Sozialethische Antworten auf die Neue Fürsorglichkeit in der Sozialpolitik
Zusammenfassung
Spätestens mit den Reformen der „Agenda 2010“ wurde der bundesdeutsche Sozialstaat in Richtung einer Neuen Fürsoglichkeit umgebaut; dabei wurden auch die Gerechtigkeitserwartungen an den Sozialstaat neu justiert. Im Zuge von „Fordern und Fördern“ ist der Sozialstaat gegenüber LeistungsbezieherInnen in vielen Fällen unbarmherzig geworden. Diese Unbarmherzigkeit ergibt sich im Vollzug der von ihm erwarteten Gerechtigkeit. In der Kritik am aktivierenden Sozialstaat wird eine Alternative zu dessen kalter, weil erbarmungsloser Gerechtigkeit gesucht. Gefunden wird sie in den berechtigten Ansprüchen von Einzelnen auf eine angemessene, d. h. ihren besonderen Bedarfs- und Problemlagen entsprechende Förderung – und auf die dazu notwendigen Freiräume für eine jeweils ihnen geschuldete Barmherzigkeit.

Abstract
At the latest with the reforms of the „Agenda 2010“, the welfare state of the Federal Republic of Germany was altered in the direction of a New Solicitude; in the process the justice-related expectations with respect to the welfare state were also readjusted. In the course of „demanding and supporting,“ the welfare state has become, in many instances, merciless towards the recipients of the benefits. This mercilessness results in the administration of the justice expected by the state. In the criticism of the activating welfare state, an alternative to the cold justice caused by its mercilessness is being sought. It is being found in the legitimate demands of individuals for appropriate support, i.e. support corresponding to the particular circumstances of their needs and problems, and in their demands for the free spaces this requires for a mercy that is due to each of them.

Schlüsselwörter – Keywords
Sozialpolitik, Sozialstaat, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Solidarität
social policy, welfare state, justice, mercy, solidarity

Vermutlich noch nicht in ihren biblischen Quellen, vielleicht erst nach der Übernahme des griechischen Gerechtigkeitsdenkens – spätestens seit der Erlösungslehre des Anselm von Canterbury neigt die christliche Theologie dazu, die Barmherzigkeit in Wert und Würde über die Gerechtigkeit zu stellen und nur in der den Menschen überlegenen Gerechtigkeit Gottes zugleich dessen überlegene Barmherzigkeit aufgehoben zu sehen. Diese Sicht auf Barmherzigkeit und Gerechtigkeit schlägt sich auch in dem 1997 veröffentlichten Sozialwort der beiden bundesdeutschen Kirchen „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ nieder: Darin treten die Kirchenleitungen zwar „dafür ein, dass Solidarität und Gerechtigkeit als entscheidende Maßstäbe einer zukunftsfähigen und nachhaltigen Wirtschafts- und Sozialpolitik allgemeine Geltung erhalten“ (Nr. 2). Dennoch heißt es im theologischen Teil: „Bei der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit kommt dem biblischen Ethos eine befreiende und stimulierende Funktion zu. Das biblische Ethos erschöpft sich nämlich nicht in der Forderung nach Gerechtigkeit. Das der menschlichen Person Zukommende und Gebührende ist mehr als Gerechtigkeit, nämlich persönliche Zuwendung, Liebe und Barmherzigkeit. So ist die Barmherzigkeit eine Erfüllung der Gerechtigkeit, die diese zugleich überbietet“ (Nr. 114 – Hervorhebung eingefügt).

Zumal in sozialpolitischen Kontexten graust es auch Christinnen und Christen vor einer solchen Vorrangstellung der Barmherzigkeit. Mehr noch: Sozialpolitik in der uns heutzutage vertrauten Form beginnt historisch, als die Lösung von sozialen Problemlagen und Verwerfungen der Mildtätigkeit barmherziger Menschen entzogen und stattdessen staatlichen Institutionen verpflichtend übertragen und dass zu deren Legitimation eine Ethik der Gerechtigkeit an die Stelle einer Ethik der Barmherzigkeit gesetzt wurde. Problemlagen und Verwerfungen wurden politisiert und in die gemeinsame Verantwortung in einer politisch konstituierten Gesellschaft genommen, was unter den normativen Vorgaben einer an Einzelne adressierten Barmherzigkeit nicht möglich gewesen wäre. Barmherzige Mildtätigkeit ist – so wird in der sich konstituierenden Sozialpolitik manifest – dem Ausmaß und der Komplexität von sozialen Problemlagen und Verwerfungen nicht angemessen. Als soziale Problemlagen und Verwerfungen bereiten sie nicht nur den Einzelnen, sondern auch ihren sozialen Zusammenhängen und der Gesellschaft im Ganzen Probleme, weswegen deren Bearbeitung auf einer verlässlichere Grundlage gestellt wurde, als man barmherziger Mildtätigkeit zutrauen kann. Zudem wird eine Ethik der Barmherzigkeit den sich in den sozialpolitischen Auseinandersetzungen durchsetzenden Vorstellungen, dass Menschen Ansprüche auf Fürsorge und Sicherung haben und dass – spiegelbildlich dazu – Menschen verpflichtet sind, zur Finanzierung der entsprechend notwendigen Fürsorge und Sicherung beizutragen, nicht gerecht. Um diese Vorstellungen begrifflich einzufangen, wurde ein „Mehr“ an Rechten auf Fürsorge und Sicherung sowie ein „Mehr“ an Verpflichtung gebraucht, als in einer Ethik der Barmherzigkeit gedacht werden konnte. Schließlich ließen sich über „Barmherzigkeit“ nicht die politisch geforderte Gleichheit zwischen den Unterstützungsbedürftigen sowie die Gleichheit zwischen den zur Unterstützung Verpflichteten, erst recht nicht die Gleichheit zwischen denen, die der Unterstützung bedürfen, und denen, die zur Unterstützung verpflichtet werden, „herstellen“. Hingegen ließen sich auf dem Wege der „Gerechtigkeit“ hinreichend belastbare Rechte und ebenso belastbare Pflichten schaffen – und beides unter dem Anspruch gleicher Rechte und gleicher Pflichten. Für die Verwirklichung dieser Rechte und Pflichten wurde die in modernen Gesellschaften einzig hinreichend „mächtige“ Institution, der Staat, in Anspruch genommen und die Gewährleistung der Rechte sowie die Abrufung der Pflichten an ihn adressiert. „Gerechtigkeit statt Barmherzigkeit“ lautet daher die Grundintuition der uns heutzutage vertrauten Sozialpolitik; und diese Intuition ist einer der basalen Vorgaben für den sich über diese Sozialpolitik einstellenden Sozialstaat. Was in theologischen Zusammenhängen als ein „Mehr“ gegenüber der Gerechtigkeit ausgegeben wird, die Barmherzigkeit, ist daher in sozialpolitischen Zusammenhängen ein „Sehr viel weniger“, ist ein dramatisches Unterschreiten der Menschen gerechterweise zustehenden Unterstützung oder der Anderen gerechterweise abverlangten Zumutungen, ist also ein Rückschritt gegenüber den sozialpolitisch erreichten Standards.

Trotz der für Sozialpolitik habituellen Vorliebe für die Gerechtigkeit, oder genauer: aus dieser Vorliebe heraus soll in diesem Beitrag dennoch für ein Mehr an Barmherzigkeit plädiert werden – und zwar als eine Forderung an den bundesdeutschen Sozialstaat und als eine Forderung der Gerechtigkeit. Dabei geht es nicht darum, Sozialpolitik im Geiste der Barmherzigkeit zu konzipieren oder gar Sozialpolitik durch barmherzige Mildtätigkeit zu ersetzen; es geht auch nicht darum, einer theologisch geadelten Barmherzigkeit Gerechtigkeit und sozialstaatliche Leistungen einzubauen und sie auf diesem Wege mit den Standards moderner Sozialpolitik zu versöhnen. Plädiert wird vielmehr dafür, dass sich der bundesdeutsche Sozialstaat – nach seiner Neuausrichtung auf „Fördern und Fordern“ – seine Unbarmherzigkeit abgewöhnt. Ohne für die Vorrangstellung der Barmherzigkeit einzutreten, ohne den sozialethischen Vorrang der Gerechtigkeit außer Kraft zu setzen, soll Barmherzigkeit kritisch gegen die Neue Fürsorglichkeit der bundesdeutschen Sozialpolitik als eine Forderung der Gerechtigkeit vorgebracht werden. Dazu wird dem Prinzip der Barmherzigkeit eine für den Kontext der Sozialpolitik präzise und mit der Kategorie der Gerechtigkeit abgestimmte Bedeutung gegeben. Mit diesem Ziel wird Gerechtigkeit als Legitimationsprinzip für sozialstaatliche Leistungen und die diesem Prinzip entsprechende Ausrichtung sozialstaatlicher Leistungen aufgeklärt (1.) und anschließend die Neue Fürsorglichkeit des aktivierenden Sozialstaats nachvollzogen (2.). In Kritik an dessen Härte wird abschließend dem bundesdeutschen Sozialsaat Barmherzigkeit abverlangt – und diese Forderung als Moment der ihn legitimierenden Gerechtigkeit ausgeführt (3.). Über diese drei Schritte hinweg wird in Kritik am bundesdeutschen Sozialstaat für eine barmherzige Gerechtigkeit plädiert.

1. Sozialpolitik der Gerechtigkeit

In dem Maße, wie man Einzelnen und ihren Haushalten Ansprüche auf Fürsorge und auf Sicherung, auf Ausgleich von Benachteiligungen oder auf Dienste zur Daseinsvorsorge zusprach – und zwar auch in all den Fällen zusprach, in denen sie sich all dies nicht durch eigenes Einkommen, nicht durch privatwirtschaftliche Absicherung und auch nicht durch private, in der Regel familiare Alimentation besorgen können –, musste der Staat beauftragt werden, die den Anspruchsberechtigen zugesprochene Fürsorge und Sicherung, den Ausgleich und die Dienste der Daseinsvorsorge zu gewährleisten. Denn einzig über die Leistungsfähigkeit des Staates konnten die Ansprüche so gehärtet werden, dass die Einzelnen und ihre Haushalte die ihnen zugesprochenen Ansprüche in akuten Bedarfsfällen auch realisieren und sich zudem auf deren Realisierung in kommenden Bedarfsfällen einstellen sowie in ihrer Lebensplanung darauf verlassen können. Derartige Ansprüche wurden in Deutschland zunächst über die Sozialversicherungen begründet – und dabei die Zugehörigkeit zu der darüber organisierten Solidargemeinschaft, inklusive der sich daraus ergebenden Beiträge, als Grund für Leistungsansprüche genommen. Später wurden dann auch unmittelbare Rechte gegenüber dem Sozialstaat gesetzt, wie etwa mit der Anfang der 1960er Jahren durch das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) eingeführten Sozialhilfe.

Analytisch und daher nicht ganz trennscharf lassen sich Ansprüche auf sozialstaatliche Leistungen in zwei Klassen unterscheiden: Erstens werden den Einzelnen Grundrechte zugesprochen und der Sozialstaat zu deren Erfüllung herangezogen. Grundrechte werden in politischen Entscheidungen nicht eigentlich geschaffen, sondern eher entdeckt und anerkannt. Sie müssen nicht immer die Qualität von Menschenrechten haben, müssen also weder völker- oder verfassungsrechtlich kodifiziert sein noch im Konzept einer basalen Menschenwürde begründet werden. Auch oberhalb der Schelle, bei der es darum geht, dass Menschen ein ihrer Menschenwürde entsprechendes Leben führen können, werden Grundrechte – etwa im Bereich der schulischen und hochschulischen Bildung – behauptet. Häufig betreffen sie dann die Voraussetzungen oder Bedingungen für unterschiedliche Lebenspläne und -entwürfe und sichern dann den Einzelnen die gleichen Möglichkeiten, unterschiedliche Lebenspläne und Lebensentwürfe zu verwirklichen. Zweitens werden den Einzelnen Ansprüche auf die Solidarität aller derer zugesprochen, mit denen sie eine politisch konstituierte Gemeinschaft bilden, und der Sozialstaat wird in Vollzug dieser Solidarität verpflichtet, die Erfüllung dieser Ansprüche zu organisieren. Solidaritätsansprüche sind Ausdruck politischer Entscheidungen, mit der in einer solchen Gemeinschaft die wechselseitigen Verpflichtungen zwischen den Mitgliedern bestimmt werden. Sie gelten nur für die Mitglieder dieser Gemeinschaft. In materialer Hinsicht geht es in den Grundrechten um Rechte von Einzelnen als Menschen, in Solidaritätsnormen hingegen um Rechte von Einzelnen als Mitglieder einer bestimmten Gemeinschaft. Entsprechend besitzen Grundrechte und Solidaritätsansprüche eine unterschiedliche Geltungsweite: Sind die Ersten an alle Menschen ohne jede Ausnahme adressiert und gelten insofern universal und unüberbietbar inklusiv, gelten die Zweiten nur im Rahmen einer bestimmten Gemeinschaft, sind mithin partikular und exklusiv.

Hinsichtlich ihres Verpflichtungsgrades unterscheiden sich Grundrechte und Solidaritätsansprüche nicht. Wenn auch unterschiedlich, nämlich entweder als Menschen unter prinzipiell gleichen Menschen oder als Mitglieder einer bestimmten Gemeinschaft gegenüber allen anderen Mitgliedern, werden Einzelne durch Grundrechte und Solidaritätsansprüche gleichermaßen berechtigt. Bestimmte Ansprüche auf Fürsorge und Sicherung, auf Ausgleich und Dienste der Daseinsvorsorge werden Einzelnen und ihren Haushalten zugesprochen – und ihnen wird darüber hinaus zugesprochen, dass sie beim Sozialstaat entsprechende Leistungen einfordern können. Doch dient der Sozialstaat auch den anderen, gegenüber denen die Ansprüche zunächst einmal bestehen und für die der Sozialstaat die Gewährleistung dieser Ansprüche „übernimmt“. Im Fall der Solidaritätsansprüche ist die politische Gemeinschaft Grund der Ansprüche von Einzelnen und ihrer Haushalte, weswegen man sie als das Ergebnis politischer Selbstbestimmung erheben und ihnen – in normativer Hinsicht – eine hohe Kontingenz zugestehen muss. Im Fall der Grundrechte ist die politische Gemeinschaft „lediglich kontingenter Anwendungsrahmen … eines menschenrechtlichen Apriorismus“. Wird diese theoretisch eingefangen, wird die Kontingenz der Grundrechte – in normativer, nicht jedoch in historischer Hinsicht – ausgeschlossen.

Zwar werden in Solidaritätsverhältnissen zumeist denjenigen besondere Anstrengungen abverlangt, die aktuell über größere Handlungsressourcen verfügen, und dies zugunsten derjenigen, die aktuell mit geringeren Ressourcen ausgestattet sind. In dieser Hinsicht besteht in Solidaritätsverhältnissen ein gewisser Zwang zum Ausgleich von sozialen Ungleichheiten; und deswegen verläuft deren Leistungsbilanz in jedem Augenblick asymmetrisch. Gleichwohl nährt sich die Solidarität, auch die über den Sozialstaat organisierte, aus einer – wenngleich möglicherweise auch über lange Zeit bloß latenten – Reziprozität. Die Ansprüche untereinander resultieren aus gemeinsamen Zielen, zu denen auch diejenigen mit eigenen Leistungen beizutragen haben, die jeweils aktuell – aus welchen Gründen auch immer – die Unterstützung anderer beanspruchen (können). Damit unterscheidet sich Solidarität von Barmherzigkeit: Weder eignet der Solidarität die der Barmherzigkeit typische Asymmetrie von Geben und Nehmen, vielmehr intendiert sie eine, wenn auch geduldige Reziprozität; noch zielt sie notwendig auf die Beseitigung oder Vermeidung von Not und Elend, vielmehr auf die gemeinsame Verwirklichung gemeinsamer Ziele. In ihren Solidaritäten können sich Solidargenossen folglich auch anspruchsvolle Ziele setzen – und zur Erreichung dieser Ziele untereinander auch komfortable Unterstützung leisten und einen Ausgleich jenseits von Fragen menschenwürdigen Lebens und oberhalb von Grundrechten pflegen. Im Unterschied dazu wirken Grundrechte weniger ausgleichend: Für alle Berechtigten wird deren Erfüllung gleichermaßen verlangt, sofern und in dem Maße die Einzelnen deren Erfüllung einfordern. Bis zu der jeweils von ihnen definierten Schwelle bewirken Grundrechte Gleichheit – und gleichen dazu auch vorgängige Ungleichheiten aus. Oberhalb dieser Schwelle sind sie jedoch für die sich dann einstellenden Ungleichheiten unsensibel, zumindest solange diese Ungleichheiten „on the top“ nicht die durch die Grundrechte gestützte Gleichheit zunichte machen. Zwar bestehen Grundrechte für alle gleichermaßen und dabei auch gegenüber allen gleichermaßen. Darin zielen sie aber nicht auf eine Gegenseitigkeit, wie sie für Solidaritätsansprüche typisch ist. Zumindest prinzipiell gilt es Grundrechte unabhängig davon zu erfüllen, ob die aktuell Berechtigten Grundrechte anderer in der Vergangenheit erfüllt haben oder sie in der Zukunft erfüllen werden. Im Unterschied zur Barmherzigkeit wird mit Grundrechten intendiert, dass sie für alle RechtsträgerInnen gleichermaßen erfüllt werden und dass daher unterhalb der durch die Grundrechte definierten Schwelle zwischen ihnen Gleichheit „herrscht“.

Zusammen machen Grundrechte und Solidaritätsansprüche die Ansprüche gegenüber dem Sozialstaat aus – und begründen Gerechtigkeitserwartungen an diesen und geben in dem Maße ihrer Erfüllung Auskunft über dessen Gerechtigkeit. Damit wird für den Sozialstaat Barmherzigkeit „ausgeschlossen“ – und zwar so, dass die „Werke der Barmherzigkeit“ nur noch jenseits der durch die berechtigten Ansprüche definierten Leistungen zugelassen werden. Wo harte Ansprüche auf Fürsorge und Sicherung, auf Ausgleich und Daseinsvorsorge gelten, dürfen Einzelne nicht auf das Entgegenkommen von barmherzig gestimmten Menschen angewiesen sein. Wo Ansprüche gleichermaßen für alle gelten, darf nicht die Kontingenz barmherziger Zuwendung herrschen. Und wo andere dazu verpflichtet werden, gemeinsam mit anderen durch Beiträge oder Steuern notwendige Leistungen der Fürsorge und der Sicherung, des Ausgleichs und der Daseinsvorsorge zu ermöglichen, darf ihnen nicht gestattet werden, dieser Verpflichtung über freiwillige Leistungen der Barmherzigkeit auszuweichen. Weil der Sozialstaat für den durch die Grundrechte definierten Bereich der basalen Versorgung einstehen muss, wird die Mildtätigkeit auf seltene Notlagen beschränkt – zumindest sofern der Sozialstaat die ihm auferlegten Aufgaben erfüllt. Wenn hingegen übermäßig Barmherzigkeit gefordert ist, kommt der Sozialstaat den an ihn gerichteten Forderungen nicht nach und ist zumindest in diesem Sinne ungerecht. Auf den Sozialstaat bezogen muss daher ein mehr als geringer Bedarf an Barmherzigkeit als Indiz für mangelnde Gerechtigkeit genommen werden.

Aber selbst in den für die Barmherzigkeit zulässigen Bereichen und in den für sie legitimen Grenzen werden deren „Werke“ durch die Gerechtigkeit in Frage gestellt. So werden etwa die AdressatInnen barmherziger Mildtätigkeit gegenüber anderen bevorzugt, die ebenso wie diese bedürftig sind, ohne dass ihre Bevorzugung gegenüber diesen gerechtfertigt werden könnte. Um einen solchen Mangel an Gerechtigkeit auszumerzen, lassen sich „Werke der Barmherzigkeit“ unter der Logik der Gerechtigkeit begründen. Zum Beispiel werden sie als Vorgriff auf sozialstaatliche Leistungen vorgestellt, die so an der erst zukünftig möglichen, aber bereits jetzt intendierten Allgemeinheit teilhaben sollen. Oder es werden die AdressatInnen als besonders Bedürftige ausgewiesen oder es wird die Allgemeinheit der AdressatInnen beansprucht. Auf dem einen wie dem anderen Weg wird die barmherzige Zuwendung unter die Maßgabe der Gerechtigkeit gebracht. Ihr Mangel an Gerechtigkeit lässt sich aber auch dadurch umgehen, dass die „Werke der Barmherzigkeit“ ins Private verschoben und damit der Öffentlichkeit entzogen werden, in der sie unter dem Maßstab der Gerechtigkeit geprüft und in der Folge problematisiert werden.

Den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden, die die Nächstenliebe im Namen führen und die – in ihrer theologischen Deutung – als diakonischer Selbstvollzug der Kirchen gelten, wird unter dem für die Bundesrepublik typischen sozialstaatlichen Arrangement ein theologischer Spagat abverlangt. Einerseits müssen sie in ihrer Konzeptualisierung nach innen sowie in der Legitimation nach außen (und dabei gerade auch gegenüber ihren verfassten Kirchen) die mit ‚Nächstenliebe‘ theologisch verknüpfte Barmherzigkeit erfüllen, müssen also in irgendeinem theologisch aussagbaren Sinn barmherzig sein. Zugleich haben sie aber in der von ihnen vollzogenen Nächstenliebe sozialstaatliche Leistungen gegenüber allen Anspruchsberechtigten zu erfüllen, für die sie vom Sozialstaat beauftragt und entsprechend refinanziert werden. In der von ihnen namentlich beanspruchten Nächstenliebe erfüllen sie die berechtigten Ansprüche gegenüber dem Sozialstaat – und vollziehen zumindest in diesem Sinne dessen Gerechtigkeit. Vor allem seit den 1960er Jahren, also in Reflex auf den Ausbau sozialstaatlicher Leistungen, die zunehmende „Eingliederung“ der kirchlichen Wohlfahrtspflege in das sozialstaatliche Leistungssystem sowie die Professionalisierung der kirchlichen Wohlfahrtspflege, wird dieser Spagat dadurch bewältigt, dass der enge begriffliche Zusammenhang von ‚Nächstenliebe‘ und ‚Barmherzigkeit‘ gelockert und Nächstenliebe theologisch als Tugend und als Motiv gefasst wird, aus der und dem heraus sich die kirchliche Wohlfahrtspflege in den Dienst des Sozialstaats und dessen Gerechtigkeit stellt. Barmherzigkeit hingegen ließ sich theologisch in der besonderen Art ausweisen, in der man in der kirchlichen Wohlfahrtspflege an den sozialstaatlich ausgewiesenen Anspruchsberechtigten Dienste erbringt: An konkreten KlientInnen werden nicht nur deren Leistungsansprüche professionell und nach staatlichen Vorgaben erfüllt, sondern man wendet sich ihnen darin zugleich barmherzig und damit in besonderer, dem Sozialstaat gänzlich fremder Weise zu.

Indem man Grundrechte und Solidaritätsansprüche unter dem Maßstab der Gerechtigkeit prüfen und im Modus ihrer Rechtfertigung an den Sozialstaat adressieren kann, setzt man sie unter den Gerechtigkeit wesentlich ausmachenden Anspruch von Allgemeinheit und Verallgemeinerung – und damit auch unter den Anspruch, sie ohne Ansehung von Personen rechtfertigen zu können. Im Vergleich zum Rechtsstaat kann in sozialstaatlichen Leistungen diese Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit „ohne Ansehung der Person“ allerdings nur begrenzt eingelöst werden. Im Recht kann der Staat den Einzelnen gerechtfertigte Rechte in Form von Erlaubnissen und Verboten zuweisen und dabei deren Besonderheiten als Personen ignorieren, so dass diese ihre Besonderheiten in der Wahrnehmung ihrer Rechte selbst vertreten und durchsetzen können. Hingegen hat es der Sozialstaat mit Leistungen, mit Umverteilung und Zuweisungen zu tun, die auf Bedarfslagen von einzelnen und ihrer Haushalte reagieren müssen, sollen sie deren gerechtfertigte Ansprüche auf Fürsorge und Sicherung, auf Ausgleich und Daseinsvorsorge erfüllen. Ohne jede Ansehung von Personen kann ein Sozialstaat die Bedarfslagen von Einzelnen aber nicht angemessen beantworten und kann von daher auch nicht deren im Allgemeinen und unter der Maßgabe der Verallgemeinerung gerechtfertigte Ansprüche gewährleisten. Diese Spannung wurde im bundesdeutschen Sozialstaat vor allem dadurch gelöst, dass er auf typische Bedarfslagen von Einzelnen und ihren Haushalten, etwa die Bedarfslage von abhängig Beschäftigten oder von Familien, reagiert. Weil typisch, kann er sich um diese Bedarfslagen ohne eine genaue Ansehung der davon betroffenen Personen und deshalb auch um alle Betroffenen gleichermaßen kümmern, die diese typischen Bedarfslagen teilen. Zudem wurde diese Spannung auch dadurch bewältigt, dass typische Bedarfslagen mit Geldleistungen beantwortet wurden, es dabei – analog zu rechtlich gesetzten Erlaubnissen und Verboten – den EmpfängerInnen überlassen bleibt, wie sie mit dem zugewiesenen Geld ihre je besonderen Bedarfe decken.

2. Die Neue Fürsorglichkeit

Seit den 1970er Jahren geriet der bundesdeutsche Sozialstaat zunehmend in die Kritik – und zwar nicht nur in die Kritik von Wirtschaftsliberalen, die den Sozialstaat als Hemmnis für die bundesdeutsche Volkswirtschaft im „Standortwettbewerb“ und als Bremse für deren Leistungsfähigkeit ausmachten. Sozialpolitisch folgenreicher war die ausdrücklich sozialpolitisch interessierte Kritik daran, dass der bundesdeutsche Sozialstaat, trotz des hohen Aufwands, die gesellschaftliche Zugehörigkeit derer nicht bewirken kann, die sozialstaatliche Leistungen beziehen. Diese Kritik entzündete sich vor allem an der Arbeitslosigkeit, die durch die sozialpolitischen Leistungen für die von Arbeitslosigkeit Betroffenen nicht verhindert oder – nach einigen Interpretationen – durch diese Leistungen sogar forciert wurde. Statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren, solle der Sozialstaat – so wurde gefordert – die von Arbeitslosigkeit Betroffenen in Beschäftigung bringen und ihnen auf diesem Wege zu einer vollen gesellschaftlichen Teilhabe verhelfen. Was konzeptuell zuvor als Grund für sozialstaatliche Leistungen vorausgesetzt, deswegen aber nicht selbst als Ziel dieser Leistungen intendiert wurde, nämlich Inklusion, wurde zunehmend zum programmatischen Leitmotiv der Sozialpolitik – und damit auch zum programmatischen Kern der sozialpolitischen Reformdebatten. Weniger auf den sozialen Ausgleich von unterschiedlichen Einkommen oder Lebensrisiken („Verteilungsgerechtigkeit“), sondern weit mehr auf Teilhabe („Beteiligungsgerechtigkeit“) sollen sozialstaatlichen Leistungen abzielen. So wurde seit den 1970er Jahren die Gerechtigkeitserwartungen an den Sozialstaat neu justiert: Zunächst einmal wird jedem und jeder das Recht auf volle gesellschaftliche Zugehörigkeit zugesprochen – und von diesem Recht her werden die Grundrechte und Solidaritätsansprüche konzipiert, auf deren Erfüllung der Sozialstaat verpflichtet wird. Von daher ging es in dieser sozialpolitisch wirksamen Kritik nicht um den Abbau von sozialstaatlichen Leistungen; es ging vielmehr um eine – unter Maßgabe einer neu justierten Gerechtigkeit – Neuprogrammierung der dem Sozialstaat abverlangten Leistungen.

Dass Einzelne in ihrer gesellschaftlichen Zugehörigkeit bedroht, dass sie sogar gesellschaftlich ausgeschlossen sind, das wurde in den sozialpolitischen Debatten, zumindest in dominanten Beiträgen, maßgeblich den davon betroffenen Personen selbst „angelastet“. Die Gründe für unzureichende Inklusion, vor allem die Gründe für mangelnde Beschäftigung und für unzureichende Arbeitsmarktintegration wurden in Mängeln der Personen, etwa in unzureichender Ausbildung oder in mangelnder Mobilitätsbereitschaft, ausgemacht. Mit dem Ziel der Inklusion wurde deshalb der Sozialstaat auf die Aufgabe verpflichtet, diese Mängel durch geeignete Förderinstrumente zu bearbeiten, den davon Betroffenen zu helfen, ihre Mängel zu beheben, und bei ihnen die jeweils notwendige Bereitschaft und ihre engagierte Mitwirkung einzufordern. Die „Eigenverantwortung“ sollte bei den EmpfängerInnen sozialstaatlicher Leistungen gestärkt werden. Sie sollten angehalten werden, sich – mit Hilfe sozialstaatlicher Fördermaßnahmen – aus der Fürsorge des Sozialstaats zu lösen und ihre eigenen Ressourcen zu „aktivieren“. Das neue Leistungsprogramm des zugleich auf Inklusion und Aktivierung hin ausgerichteten Sozialstaats lautet daher: „Fördern und Fordern“.

Umgesetzt wurde diese neue Art sozialstaatlicher Fürsorge spätestens mit den sozialpolitischen Reformen der „Agenda 2010“ und den dazu betriebenen gesetzgeberischen Arbeiten an den Sozialgesetzbüchern, insbesondere mit der Einführung des neuen SGB II („Grundsicherung für Arbeitssuchende“), der Reform des SGB III („Arbeitsförderung“) und der Reform der Sozialhilfe mit Einführung von SGB XII. Zwar werden darin auch weiterhin Geldleistungen als Ersatz für fehlendes Erwerbseinkommen vorgesehen. Zugleich werden aber Fördermaßnahmen für die von Arbeitslosigkeit betroffenen Erwerbspersonen vorgeschrieben – und die sozialarbeiterische Bearbeitung von Mängeln bei den LeistungsbezieherInnen ganz im Sinne von „Fördern und Fordern“ in den Vordergrund gerückt. So wird das SGB II unter den „Grundsatz des Förderns“ (§ 14) gestellt: „Die Träger der Leistungen […] unterstützen erwerbsfähige Leistungsberechtigte umfassend mit dem Ziel der Eingliederung in Arbeit“. Die im Gesetz vorgesehenen Geldleistungen dienen deshalb nicht nur „zur Sicherung des Lebensunterhalts“ (§ 19), sondern nicht unwesentlich auch dazu, bei den von Arbeitslosigkeit Betroffenen Anreize für Beschäftigung und die dafür als notwendig angesehenen Fördermaßnahmen zu schaffen bzw. die Verweigerung der sozialstaatlich angebotenen Fördermaßnahmen zu sanktionieren. Was in den 1960er Jahren im alten BSHG als existenzsichernde Grundsicherung konzipiert wurde, wird im SGB II zu einem Sanktionsmittel, das man zur Ahndung von Pflichtverletzungen zunächst um 30 Prozent und im Wiederholungsfall sogar bis zu 100 Prozent kürzen, also ganz aussetzen kann (§ 31a „Rechtsfolgen bei Pflichtverletzungen“). Zur Durchsetzung des Rechts auf gesellschaftliche Zugehörigkeit wird also denjenigen, die in Folge ihrer Arbeitslosigkeit auf sozialstaatliche Unterstützung angewiesen sind und sich deswegen unter das SGB II gestellt haben, das Recht auf „Sicherung des Lebensunterhaltes“ zumindest nicht mehr uneingeschränkt zugestanden.

Zeitgleich zur Neuprogrammierung der sozialstaatlichen Leistungen auf diese neue Art der Fürsorge wurde ein „Neues Steuerungsmodell“ („New Public Management“) umgesetzt. Dadurch sollte zunächst einmal der Staat und dessen Verwaltungen von der behördlichen Handlungs- und Steuerungslogik auf die eines Dienstleistungsunternehmens umgestellt werden. Dieses Steuerungsmodell wurde nicht nur nach innen – mal mehr und häufiger weniger – umgesetzt, sondern auch nach außen gegenüber den Leistungserbringern von Sozialen Diensten durchgesetzt – u. a. durch dessen Verankerung im „Kontraktmanagement“ oder über Vereinbarungen der Refinanzierung. Die Verbände und Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege und damit auch die der kirchlichen Wohlfahrtspflege werden dabei einzelwirtschaftlichen Anbietern gleichgestellt und haben mit diesen und auch untereinander um sozialstaatliche Aufträge zu konkurrieren. Damit wurde die in der Bundesrepublik eingespielte Kooperation zwischen Sozialstaat und Freier Wohlfahrtspflege aufgekündigt. Die Freie und daher auch die kirchliche Wohlfahrtspflege kann nunmehr an der Gerechtigkeit des Sozialstaats nur noch sehr vermittelt mitwirken, sofern sie nämlich im Wettbewerb mit anderen Anbietern von sozialstaatlichen Stellen einen Zuschlag bekommt. Dafür, dass Anbieter aus der Freien Wohlfahrtspflege an der Gerechtigkeit des Sozialstaats mitwirken wollen und dieses Wollen für sie konstitutiv ist, macht sich der Sozialstaat blind – und macht dadurch seine eigene Gerechtigkeit zu seiner eigenen Sache. In dem Maße, wie dies in der sozialpolitischen Öffentlichkeit, aber auch bei ihren KlientInnen und bei der verfassten Kirche manifest wird, wird es für die Verbände und Einrichtungen der kirchlichen Wohlfahrtspflege sowohl für ihr theologisches Programm der Nächstenliebe als auch für „Werke der Barmherzigkeit“ eng. In dem sozialstaatlich aufgezwungenen Wettbewerb geht es nämlich darum, durch Aufträge des Sozialstaats und durch die daraus folgende Refinanzierung das Bestehen der eigenen Einrichtungen zu sichern. So aber werden die eigenen Einrichtungen zum primären Ziel dieser Einrichtungen und der sie tragenden Wohlfahrtsverbände. Im Rahmen der betriebswirtschaftlichen Führung werden zudem „Werke der Barmherzigkeit“ ausgeschlossen, zumindest solange sie die vertraglich vereinbarten und über den Vertragsschluss hinaus auch kontrollierten Vorgänge betreffen. Mit „Nächstenliebe“ und „Barmherzigkeit“ verfolgen kirchliche Einrichtungen und Verbände gleichwohl Markenpolitik auf umkämpften Wohlfahrtsmärkten und im Wettbewerb mit anderen Anbietern – und verbrauchen das damit ausgesagte theologische Programm zusätzlich noch einmal zur Selbstbehauptung.

So wenig er in den von ihm beauftragten Diensten Raum für „Werke der Barmherzigkeit“ lässt, so sehr ist der aktivierende Sozialstaat jedoch an eben solchen Werke außerhalb seines Verantwortungsbereichs interessiert. Nicht zuletzt zur eigenen Entlastung sucht er freiwillige Fürsorge zu mobilisieren – bei Menschen mit entsprechend freier Zeit in Form von ehrenamtlichem Engagement oder bei denen mit ausreichend hohem Einkommen und Vermögen in Form von privater Mildtätigkeit. In diesem Sinne begünstigt er inzwischen in nennenswertem Umfang Stiftungen mit mildtätigen Stiftungszielen steuerlich – und ermöglicht es dadurch Reichen und Superreichen, sich aus der Finanzierung sozialstaatlicher Ausgaben zurückziehen und sich stattdessen nach eigenen Vorstellungen in „Werken der Barmherzigkeit“ zu engagieren.

In seinem Verantwortungsbereich betreibt der aktivierende Sozialstaat seine neue Art der Fürsorge in Ansehung der zu fördernden Personen – und dies eben stärker als zuvor. Bereits bei der Definition, worin der Förderbedarf bei den AdressatInnen sozialstaatlicher Leistungen überhaupt besteht, zwingt sich der aktivierende Sozialstaat zu einer genauen Ansehung der Person und ihrer konkreten Bedarfs- und Problemlagen. Die Leistungen sollen die an den Personen hängenden Mängel überwinden helfen, weswegen man über die Personen, ihre Lebenssituation und ihre Fallgeschichte genaue Kenntnisse haben muss. Der Sozialstaat bzw. genauer: die in seiner Vertretung agierenden „FallmanagerInnen“ muss bzw. müssen folglich die von ihnen betreuten Personen genau kennen und eine umfassende Einsicht in die über sie verfügbaren Daten haben. Bei der Art der Fürsorge- und Unterstützungsleistungen, die der Sozialstaat Einzelnen in Antwort auf ihre je besondere Bedarfslage „anbietet“, geht es um unterschiedliche Formen der Sozialarbeit, in der Professionelle eine dem konkreten Fall angemessene Förderung, und dies gemeinsam mit ihren KlientIinnen, betreiben sollen. Schließlich läuft der primäre Kontakt der LeistungsbezieherInnen nicht mehr über SachbearbeiterInnen, die nach Recht und Gesetz und nach Antragslage über zumeist geldliche Leistungen entscheiden, sondern über „FallmanagerInnen“, die in Ansehung der Person über die notwendigen Fördermaßnahmen entscheiden und diese mit den Betroffenen – unter asymmetrischen Bedingungen – „vereinbaren“ (§15 SGB II „Eingliederungsvereinbarung“). Die dem Sozialstaat auferlegte Neue Fürsorglichkeit kann also nur funktionieren, wenn er – durch Vermittlung etwa von „FallamanagerInnen“ – das „Fördern und Fordern“ auf konkrete Menschen ausrichtet, folglich sich für sie als besondere Personen interessiert und seine Leistungen auf ihre je besonderen Bedarfslagen hin zuschneidet.

Die bereits angesprochene Spannung sozialstaatlicher Leistungen zu der für deren Gerechtigkeit geforderte Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit wird für den aktivierenden Sozialstaat deutlich größer. Er soll allen gleichermaßen die volle gesellschaftliche Zugehörigkeit ermöglichen, soll dazu die für alle gleichen Grundrechte und Solidaritätsansprüche in akuten Bedarfsfällen für jede und jeden erfüllen, soll dies in Ansehung der je besonderen Bedarfs- und Problemlagen und soll dies auf dem Wege einer den Einzelnen und ihren Haushalten angemessenen und wirksamen Förderung. Selbst die Geldleistungen sollen, wie gezeigt: als Sanktionsmittel, in die den konkreten Personen angemessene Förderung mit einbezogen werden. Die damit verschärfte Spannung zwischen der Allgemeinheit von sozialstaatlich zu erfüllenden Grundrechten und Solidaritätsansprüchen auf der einen und den Besonderheiten ihrer Erfüllung auf der anderen Seite wird als Folge der „Neuen Fürsorglichkeit“ – so wird in diesem Aufsatz behauptet – durch Unbarmherzigkeit bewältigt, nämlich dadurch, dass sich der aktivierende Sozialstaat gerade für die je besondere Bedarfs- und Problemlagen jenseits sozialstaatlich definierter Standardannahmen unempfindlich macht, dass er also in seinem „Fördern und Fordern“ die LeistungsempfängerInnen „über einen Kamm schert“, obgleich er verspricht, ihren Besonderheiten Rechnung zu tragen, und dass er in seinen Leistungen ihre je besonderen Bedarfs- und Problemlagen nicht bewältigen hilft und sie – mehr noch – zu unangemessenen Gegenleistungen mit exkludierenden Wirkungen zwingt. Diese Behauptung soll im Folgenden durch Anschauung einiger typischer Konstellationen im aktivierenden Sozialstaat und damit gleichsam phänomenologisch plausibilisiert werden. Dabei werden – das sei zugestanden – Überzeichnungen und Vereindeutigungen in Kauf genommen.

Zumindest wenn nicht ausdrücklich auf nicht Erwerbsfähige Bezug genommen wird, werden im aktivierenden Sozialstaat die Bedarfs- und Problemlagen von Einzelnen und ihren Haushalten – und dies nicht nur im Kontext des SGB II – durch die Normvorgabe von Erwerbsarbeit vordefiniert: Fehlende Beschäftigung gilt als wichtigste Ursache für gesellschaftliche Exklusion, so dass im Umkehrschluss Beschäftigung als wesentlicher Vollzug gesellschaftlicher Zugehörigkeit und als Motor jeder darüber hin ausgehenden Inklusion ausgegeben wird. Weil Voraussetzung für Beschäftigung, wird lediglich noch Bildung mit zur normativen Vorgabe sozialstaatlicher Förderung genommen. Besondere Bedarfe und Probleme von Einzelnen und ihren Haushalten kommen nur dann und in dem Maße in den Blick, wie sie als Hindernisse für Beschäftigung und Bildung bzw. wie sie als Ressource der Beschäftigungs- und Bildungsfähigkeit genommen werden können. Dass man Beschäftigung und Bildung in dieser Weise vorgibt, ist nun weniger das Ergebnis einer Typisierung von Bedarfs- und Problemlagen und einer dazu notwendigen Empirie. Weit mehr ist dies eine normative Setzung, die allerdings als „normal“ im Sinne einer von der Mehrheit der Bevölkerung intendierten Form gesellschaftlicher Zugehörigkeit und ein von der Mehrheit akzeptiertes Ziel sozialstaatlicher Aktivitäten behauptet wird. Unter dieser normativen Vorgabe wird nun aber den Einzelnen systematisch verwehrt, eigene Besonderheiten oder die besonderen Konstellationen ihrer Haushalte, etwa Erfordernisse in der Versorgung von Familienangehörigen, hinreichend wirksam in Anschlag zu bringen. Aus den Problemen von Alleinerziehenden, den Alltag ihrer Familie zu organisieren und ein dazu ausreichendes Einkommen zu sichern, werden so zum Beispiel die Probleme von Erwerbslosen gemacht, die wegen Kindern daran gehindert sind oder sich möglicherweise auch nur gehindert sehen, sich dem Arbeitsmarkt in einem ausreichenden Umfang zur Verfügung zu stellen. Indem die Bedarfs- und Problemlagen gerade nicht von den davon betroffenen Personen her wahrgenommen werden können, kann der aktivierende Sozialstaat ihnen in seinem „Fördern und Fordern“ auch nicht in ihren Besonderheiten gerecht werden – und ist ihnen und ihrer je besonderen Not gegenüber deshalb unbarmherzig.

Der Bezug sozialstaatlicher Leistungen, zumindest von Leistungen nach dem SGB II, gilt dem aktivierenden Sozialstaat als ein Merkmal unzureichender gesellschaftlicher Zugehörigkeit. Das Ziel sozialstaatlicher Förderung, die volle gesellschaftliche Zugehörigkeit, ist dann erreicht, wenn die LeistungsbezieherInnen den Bezug sozialstaatlicher Leistungen einstellen können. Da aber die volle Zugehörigkeit mit allen sich daraus ergebenden Rechten erst für die Zeit nach dem Leistungsbezug erwartet wird, wird für die Zeit des Leistungsbezugs die in Aussicht genommene Autonomie erst einmal ausgeschlossen. Mehr noch: Weil persönliche Defizite für den Bedarf von sozialstaatlichen Leistungen ursächlich gesehen werden, gilt es – im Interesse einer künftigen Autonomie – geradezu die Autonomie in der Gegenwart einzuschränken und so eine Bearbeitung der persönlichen Defizite auch gegen den Willen der jeweiligen Personen durchzusetzen. Die Betroffenen werden also zu ihrem eigenen Besten gefördert, wobei ihnen kein, zumindest kein starkes Mitspracherecht darüber eingeräumt wird, welche Förderung denn zu ihrem Besten wäre. Vertreten Betroffene dennoch eigene Interessen und Belange und setzen sich damit in Widerspruch zu der ihnen auferlegten Förderung, dann wird dies ihnen – und zwar notweniger Weise – als Pflichtverletzung zur Last gelegt und mit Kürzung von Geldleistungen, im Wiederholungsfall mit deren Streichung sanktioniert. So werden sie unter die Schwelle gebracht, bei der ihnen – nach sozialstaatlichen Setzungen – ein menschenwürdiges Leben gerade noch möglich ist. In dem Maße, wie der aktivierende Sozialstaat in seinem „Fördern und Fordern“ den Geförderten die Autonomie einschränkt, in dem Maße, wie er deren Widerspruch durch Sanktionen zu brechen sucht und ihnen dabei sogar die Führung eines menschenwürdigen Lebens verweigert, wird er ihnen als Personen, wird er ihnen in ihrer Autonomie und Menschenwürde nicht gerecht – und ist ihnen gegenüber daher unbarmherzig.

In einigen Bereichen, allen voran in der Pflege, stattet der aktivierende Sozialstaat LeistungsbezieherInnen mit einem persönlichen Budget aus und ermöglicht ihnen so, auf entsprechenden „Wohlfahrtsmärkten“ den Anbietern von Sozialen Diensten als selbständige KundInnen gegenüberzutreten, nach eigenem Interesse Anbieter auszuwählen und mit diesen selbständig Vereinbarungen zu treffen. Allerdings sind die persönlichen Budgets von Seiten des Sozialstaats vordefiniert. Denn in ihnen sind die Leistungen – in Relation zu allen anderen LeistungsempfängerInnen gemäß abstrakter Regeln – eingerechnet, die darüber sollen finanziert werden können. Zugleich wurden mit den Anbietern jener Leistungen genaue Vereinbarungen darüber getroffen, in welcher Höhe sie welche Leistungen ihren „KundInnen“ in Rechnung stellen dürfen und welchen Aufwand sie dafür auf welchem Qualitätsniveau betreiben müssen. Obgleich die KlientInnen gegenüber den Anbietern als KundInnen auftreten (müssen), haben sie deswegen nicht die Kunden eigentlich unterstellte Souveränität – und dies selbst dann nicht, wenn man einmal von den typischen Asymmetrien absieht, die für diese Leistungen typisch sind. Im Ergebnis können die KlientInnen ihre persönlichen Bedarfe gerade nicht durchsetzen. Stattdessen werden sie – wie in der Kritik der „Minutenpflege“ angesprochen – mit genauestens verrechnete Standardleistungen bedient. Zwar kann sich der aktivierende Sozialstaat in dieser Frage hinter den Anbietern der von den KlientInnen „eingekauften“ Leistungen verstecken, jedoch ist er dafür ursächlich, dass diese ihren persönlichen Bedarf nicht realisieren können – und ist darin ihnen gegenüber unbarmherzig.

Gerade im Bereich des SGB II setzt der aktivierende Sozialstaat auf den Ausgleich von „Nehmen“ und „Geben“, erwartet also von den LeistungsbezieherInnen im Gegenzug zu den bezogenen Leistungen erstens entgegenkommende Bereitschaften und Aktivitäten und setzt bei diesen zweitens bestimmte Rechte, z. B. Recht auf freie Berufswahl, außer Kraft, die alle anderen Erwerbspersonen für sich in Anspruch nehmen können. Begründet wird dies über die Reziprozität zwischen LeistungsbezieherInnen auf der einen und den Steuer- und BeitragszahlerInnen, die durch ihre Steuern und Beiträge die bezogenen Leistungen ermöglichen, auf der anderen Seite. Durch den Bezug der Leistungen, so wird behauptet, wird diese Reziprozität gestört – und durch die den LeistungsbezieherInnen abverlangten Bereitschaften und Aktivitäten bzw. durch die ihnen auferlegten Einschränkungen ihrer Rechte wird sie wieder hergestellt. So aber bringt der Leistungsbezug die EmpfängerInnen in eine Situation abweichender Rechte und Chancen – und mithin in eine Situation „außerhalb“ voller und gleichberechtigter Zugehörigkeit in der Gesellschaft, der sie mit allen anderen angehören. Unbarmherzig wird ihre faktische Exklusion spätestens dann, wenn die im Gegenzug in Aussicht gestellte Inklusion in der Zukunft ausbleibt, wenn also die angezielte volle gesellschaftliche Zugehörigkeit mit gleichen Rechten und Chancen nicht erreicht wird, von der her sich die Einschränkungen für die Zeit des Leistungsbezugs – wenn überhaupt – rechtfertigen könnten. Unbarmherzig wird die eingeforderte Reziprozität auch immer dann, wenn dabei Verpflichtungen gesetzt werden, die die BezieherInnen von Unterstützungsleistungen aufgrund ihrer Position, derentwegen sie auf entsprechende Leistungen angewiesen sind, mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht erbringen können, sie mithin an entsprechenden Auflagen scheitern müssen und sie so von vornherein zu „Schmarotzern“ des Sozialstaats gemacht werden.

3. Ein Freiraum für Barmherzigkeit

Die angeführten Formen der Unbarmherzigkeit ergeben sich im aktivierenden Sozialstaat nicht gegen dessen Gerechtigkeit, sondern in der Erfüllung der ihm aufgetragenen Grundrechte und Solidaritätsansprüche. Zumindest sofern diese allgemein gerechtfertigt werden können – und dies wird in diesem Beitrag trotz Bedenken einmal vorausgesetzt –, bestimmen sie die gerechtfertigten Erwartungen an den Sozialstaat. Die angeführten Formen der Unbarmherzigkeit stellen sich bei deren Erfüllung ein, ergeben sich – genauer gesagt – als systematische Folge davon, dass der aktivierende Sozialstaat die ihm aufgegebene Förderung nur in genauer Ansehung von Personen und ihren spezifischen Bedarfs- und Problemlagen erfüllen kann, er dadurch aber in Spannung zu der ihm unter der Maßgabe der Gerechtigkeit abverlangten Allgemeinheit und Verallgemeinerung kommt, und dass er diese Spannung dadurch auflöst, dass er Besonderheiten nur auf Grundlage bestimmter Standardannahmen und Standardziele anerkennt und abweichende Besonderheiten von LeistungsempfängerInnen und die damit gegebenen Bedarfs- und Problemlagen ignoriert und ihnen folglich in seiner Förderung und Unterstützung nicht entsprechen kann. Insofern der aktivierende Sozialstaat zu dieser Unbarmherzigkeit systematisch „gezwungen“ ist und insofern diese in der ihm auferlegten Gerechtigkeit zugleich legitimiert wird, muss diese dem aktivierenden Sozialstaat auferlegte Gerechtigkeit als „kalt“ gelten: Damit er als gerecht gelten kann, wird er zur Unbarmherzigkeit gezwungen; und zugleich wird diese Unbarmherzigkeit, weil Folge einer gerechten Weise der Förderung, gerechtfertigt. Jede Form der Empörung über diese Unbarmherzigkeit wird damit von vornherein delegitimiert. Die Kälte der dem aktivierenden Sozialstaat zugesprochenen Gerechtigkeit ist vermutlich Bedingung dafür, dass dieser gesellschaftlich hinreichend akzeptiert wird, obgleich seine systematische Unbarmherzigkeit öffentlich bekannt ist. In seiner kalten Gerechtigkeit wird er – ähnlich wie in früheren Zeiten der strenge, erbarmungslose, darin aber gerechte Lehrer – mit jedem öffentlichen Fall von Unbarmherzigkeit als gerecht bestätigt.

Alternativlos ist diese kalte Gerechtigkeit allerdings nicht. Zumindest kann man sich in Kritik an der Unbarmherzigkeit des aktivierenden Sozialstaats für die von ihm systematisch missachteten Besonderheiten sensibel machen – und wird sie dann nicht für gerecht halten müssen, da man die vermisste Achtung von besonderen Bedarfs- und Problemlagen in der dem Sozialstaat abverlangten Gerechtigkeit unterbringen kann (und weil kann, dann auch: soll). In der dazu notwendigen Arbeit an der dem Sozialstaat zugesprochenen Gerechtigkeit wird man zunächst einmal zugestehen können, dass sozialstaatliche Leistungen – in Antwort auf die veränderten Lebenslagen und -formen, aber auch in Reaktion auf sozialstrukturelle Veränderungen etwa in der Erwerbsarbeit – stärker in Richtung fördernder Maßnahmen gelenkt werden und dass daher Sozialarbeit und Soziale Dienste im Leistungskatalog des bundesdeutschen Sozialstaats gestärkt werden sollen. Weiterhin wird man zugestehen können, dass ein stärker fördernder Sozialstaat der genaueren Ansehung der Einzelnen und ihrer spezifischen Bedarfs- und Problemlagen bedarf – sehr viel genauer, als dies in der Vergangenheit bei der damals dominanten Ausrichtung auf geldlichen Fürsorge- und Sicherungsleistungen notwendig und unter den damaligen Gerechtigkeitserwartungen erlaubt war. Die stärkere Ausrichtung auf Förderung und die damit verbundene stärkere Berücksichtigung besonderer Bedarfs- und Problemlagen der zu fördernden Personen kann unter der Maßgabe von Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit als gerecht gelten – zumindest dann, wenn das Förderziel und das daraus resultierende Interesse für besondere Bedarfs- und Problemlagen gleichermaßen allen gilt, die als Träger der an den Sozialstaat adressierten Grundrechte und Solidaritätsansprüche in Frage kommen, also dann, wenn sie nicht einzig für diejenigen gilt, die ihre Grundrechte und Solidaritätsansprüche beim Sozialstaat anmelden und dessen Leistungen wahrnehmen (müssen). Denn nur dann wirkt die gesteigerte Fürsorge bei den akut Bedürftigen nicht exkludierend; und nur dann besteht die Chance, dass es der stärker fördernde Sozialstaat in seinem Interesse an den besonderen Bedarfs- und Problemlagen gegenüber Einzelnen nicht übertreibt.

Mit dem mit Gerechtigkeit notwendig verbundenen Anspruch auf Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit kommt ein solch fördernder Sozialstaat dann nicht in Widerspruch, wenn er für die angezielte Förderung der Einzelnen – und dies für alle gleichermaßen – Freiräume schafft, die selbst nicht unter dem Maßstab der Gerechtigkeit und entsprechend nicht allgemein und allgemeingültig, sondern in Ansehung von spezifischen Bedarfs- und Problemlagen und bei Mitsprache der Einzelnen ausgestaltet werden können. Die dann ausgehandelte Förderung kann nicht verallgemeinert werden – und sie dürfte dies auch nicht, weil sie in ihrer Verallgemeinerung nicht allen anderen gleichermaßen nützen wird. Obgleich der Anspruch auf Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit außer Kraft gesetzt wird, ist die für besondere Bedarfs- und Problemlagen sensible Förderung dennoch gerecht. Denn die dafür eingeräumten Freiräume entstehen gerade dadurch, dass alle in der Erfüllung ihrer Grundrechte und Solidaritätsansprüche gleichermaßen angesichts ihrer jeweils besonderen Bedarfsund Problemlagen angemessen gefördert werden sollen. Alle haben deswegen das gleiche Recht auf einen Freiraum einer ihnen angemessenen Förderung. Deren Angemessenheit zeigt sich gerade darin, dass die in diesem Freiraum mögliche Förderung nicht verallgemeinert und nicht gleichermaßen für alle, sondern nur für die jeweils Geförderten gilt. Innerhalb der Gerechtigkeit eines so fürsorgenden Sozialstaats erfahren konkrete Personen eine angemessene Unterstützung in Ansehung ihrer Person, die nur möglich ist, weil diese Unterstützung nicht zugleich verallgemeinert wird.

Die so eingeräumten Freiräume ermöglichen Barmherzigkeit, weil sich die mit der Förderung mittelbar oder unmittelbar Beauftragten, ob FallmanagerInnen oder SozialarbeiterInnen, von der spezifischen Bedarfs- und Problemlagen Einzelner ansprechen lassen und dabei – zweifelsohne gefiltert durch Standards ihrer jeweiligen Professionen – auch sozialstaatliche Standardvorgaben und Förderziele auf Distanz bringen können, weil sie mit den jeweils Betroffenen eine angemessene Förderung und Unterstützung aushandeln und in der Folge geeignete Förder- und Unterstützungsmaßnahmen vollziehen können. Diese Barmherzigkeit ereignet sich in den Beziehungen zwischen Fördernden und Geförderten, wobei die Geförderten auf die Barmherzigkeit der Fördernden Anspruch haben, somit deren Barmherzigkeit nicht ungeschuldet ist, sondern – im Gegenteil – den Geförderten geschuldet wird. Aufbringen werden Professionelle die ihnen abverlangte Barmherzigkeit allerdings nur dann und in dem Maße, wie ihnen die dazu notwendige Zeit und hinreichend anderweitige Ressourcen eingeräumt werden. Notwendig ist auch, dass sie hinreichend souverän darin sind, Bedarfsund Problemlagen festzustellen und geeignete Fördermaßnahmen oder Dienste „anzuordnen“. Gegenteilige Anreize müssen dazu ausgeschlossen werden, die sie – wie gegenwärtig in Jobcentern und „Agenturen für Arbeit“ – zu vorschnellen und vorab bestimmten Ergebnissen bzw. zu einer bevorzugten Bearbeitung der Fälle drängen, bei denen bestimmte Ergebnisse nur bei Personen mit bestimmten Merkmalen in möglichst kurzer Zeit wahrscheinlich sind. Für diese Form der Barmherzigkeit ist – bei aller gebotenen Vorsicht, „Nächstenliebe“ auf sozialstaatliche Verhältnisse und professionelle Sozialarbeit zu übertragen – das bekannte Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37) ein sinnvolles Bild – sowohl für die geforderte Zuwendung als auch für die notwendige Ressourcenausstattung in der Zuwendung. Die andere Seite der Barmherzigkeit wird in dem Gleichnis hingegen gerade nicht ins Bild gesetzt: Wahrscheinlich wird eine solche Barmherzigkeit nur in dem Maße, wie die AdressatInnen solch sozialstaatlicher Förderung hinreichende Mitsprache über ihre Förderung haben, wenn sie also eine angemessene Deutung ihrer Bedarfs- und Problemlagen durchsetzen und eine ihnen angemessene Förderung mit aushandeln können.

Im direkten Vergleich wird es zwischen unterschiedlichen Förder- und Unterstützungsmaßnahmen zu Ungerechtigkeiten kommen – wenn denn der Vergleich unter dem Maßstab der Gerechtigkeit betrieben würde. Der Einsatz von Zeit und anderen Ressourcen in den einzelnen „Fällen“ rechtfertigt sich von den jeweiligen Bedarfs- und Problemlagen her – und kann daher gerade nicht gegenüber den jeweils anderen Fällen gerechtfertigt werden. Im allerbesten Fall werden zwar alle gleichermaßen angemessen gefördert. Dabei wird jedoch – in einer nicht zu rechtfertigenden Weise – in den einzelnen Förder- und Unterstützungsmaßnahmen ein unterschiedlicher Aufwand betrieben. Auflösen lässt sich dieses Gerechtigkeitsdefizit nicht, wenn es denn erst einmal als ein Defizit der Gerechtigkeit angesprochen wird. Damit ein entsprechend fördernder Sozialstaat nicht an der ihm auferlegten Gerechtigkeit scheitert, muss daher jeder Vergleich unterhalb der Schwelle der Gerechtigkeit bleiben – und dazu jeder und jede in der ihm und ihr geschuldeten Barmherzigkeit darauf verzichten, sich mit allen anderen in einen Vergleich zu setzen und aus einem solchen Vergleich Ansprüche für ihre oder seine Förderung zu begründen. Wahrscheinlich wird eine solche Zurückhaltung allerdings nur dann und in dem Maße, wenn und wie die Einzelnen eine ihnen angemessene Förderung erfahren und dann keinen Grund haben, in den Vergleich mit anderen zu treten. Die dem fördernden Sozialstaat vorgeschlagene Barmherzigkeit ist also zum Erfolg seiner Förderung verurteilt, um – soziologisch gesehen – wahrscheinlich und nachhaltig sein und – normativ gesehen – als gerecht gelten zu können.

Die bisherigen Ausführungen zur Barmherzigkeit in einem stärker auf Förderung ausgerichteten Sozialstaat lassen sich nun hinsichtlich des dabei mit ‚Barmherzigkeit‘ bezeichneten Sachverhaltes aufklären. Mit diesem Begriff wird ein „Beziehungsgeschehen“ gemeint – und zwar unter Bedingungen der Asymmetrie, wo in der jeweils Barmherzigkeit fordernden Situation die einen „geben“ und die anderen sollen „nehmen“ können, wobei die einen auf ihr „Geben“ nicht in vergleichbarer Weise wie die anderen auf das „Nehmen“ angewiesen sind. Das „Gebenkönnen“ begründet gegenüber dem „Nehmenmüssen“ eine Vormacht, die aber nicht, zumindest nicht gegen die Interesse der Nehmenden realisiert wird, wenn denn das Beziehungsgeschehen als Vollzug von Barmherzigkeit soll gelten können. Weiterhin werden mit ‚Barmherzigkeit‘ Beziehungen angesprochen, die von den je persönlichen Bedarfs- und Problemlagen derjenigen bestimmt werden, die wegen ihrer Bedarfe und Probleme auf Unterstützung angewiesen sind und in genauer Ansehung von Personen bestimmt werden. Barmherzigkeit ist konkreten Personen mit ihren spezifischen Bedarfs- und Problemlagen angemessen. Mit ‚Barmherzigkeit‘ wird allerdings nicht unterstellt, dass die jeweils „Nehmenden“ keinen Anspruch auf die barmherzige Zuwendung haben und die Zuwender dazu nicht verpflichtet sind. Im Gegenteil: Die vom Sozialstaat verlangte Barmherzigkeit ist den Geförderten gegenüber geschuldet – und ist deshalb auch eine Frage der dem Sozialstaat auferlegten Gerechtigkeit.

Gleichwohl unterscheidet sich die angesprochene Barmherzigkeit von dem mit ‚Gerechtigkeit‘ gemeinten Sachverhalt: Als gerecht wird etwas bezeichnet, bei dem zumindest im Akt der Rechtfertigung alle gleichermaßen berechtigt sind. Zudem wird mit ‚Gerechtigkeit‘ etwas bezeichnet, was wegen der intendierten Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit gerade nicht in Ansehung von Person beurteilt wird. Daher ist für die Gerechtigkeit die „Justitia“ mit den verbundenen Augen das Sinnbild. Anders hingegen ist der mit ‚Barmherzigkeit‘ gemeinte Sachverhalt: Sie ist gefordert in Situationen der Asymmetrie; und sie ist möglich unter genauer Ansehung der Person. Eben deswegen kann als Sinnbild das des „Barmherzigen Samariters“ gelten. Trotz der damit ins Bild gesetzten Opposition wird Barmherzigkeit nicht in ein Gegenüber zu einem gerechten Sozialstaat gestellt, sondern als dessen Moment ausgewiesen: Geht es sozialpolitisch verstärkt um Förderung und um sozialarbeiterische, aber auch um pflegerische, therapeutische und ähnliche Unterstützung, dann können die gleichen Grundrechte und Solidaritätsansprüche auf eine solche Förderung und Unterstützung für alle nur dann erfüllt werden, wenn dafür Freiräume in Ansehung konkreter Personen geschaffen werden, in denen eine angemessene Förderung und Unterstützung vereinbart und vollzogen wird, die gerade nicht verallgemeinert und für alle gleichermaßen in Geltung gesetzt werden darf.

Diese Freiräume der Barmherzigkeit werden für den gerechten Sozialstaat konzipiert – und gerade nicht „jenseits“ von diesem. Damit opponiert die für den Sozialstaat vorgeschlagene Barmherzigkeit gegen die Vorstellung von barmherziger Mildtätigkeit außerhalb der sozialstaatlichen Leistungssysteme, die zu „aktivieren“ sozialstaatliche Aufgabe wäre. Entsprechende Formen der Barmherzigkeit bleiben unterhalb der vom Sozialstaat zu erwartenden Gerechtigkeit, erfüllen nämlich die an den Sozialstaat adressierten Grundrechte und Solidaritätsansprüche für alle und für alle gleichermaßen gerade nicht. Im Gegenteil: Zumindest wenn der Staat den Reichen und Superreichen bei den Steuern entgegenkommt, entlässt er diese aus ihrer Verpflichtung, zur sozialstaatlichen Erfüllung von gerechtfertigten Grundrechten und Solidaritätsansprüchen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit beizutragen. Diese Form von Barmherzigkeit stünde mithin im Widerspruch zu der dem Sozialstaat auferlegten Gerechtigkeit.

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