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Leseprobe 2 DOI: 10.14623/thq.2015.1.75-94
Herta Nagl-Docekal
Geschlechtergerechtigkeit: Wie könnte eine philosophische Perspektive für die theologische Debatte von Relevanz sein?
Zusammenfassung
In diesem Beitrag werden amtskirchliche Stellungnahmen zum Thema „gender“ aus philosophischer Perspektive betrachtet. Erläutert wird u. a., dass der Anspruch, tradierte Geschlechterrollen aus den biologischen Differenzen von Mann und Frau abzuleiten, auf einem naturalistischen Fehlschluss beruht, und dass die Unterscheidung „sex/gender“ erlaubt, einseitig konstruktivistische ebenso wie einseitig naturalistische Theorien als defizitär zu erweisen. Gezeigt wird auch, warum die Fokussierung der „Würde der Frau“ ihre eigene Zielsetzung untergräbt, und dass die moralphilosophisch fundierte Forderung nach Überwindung der vielfältigen Geschlechterasymmetrien nicht auf eine Abkehr von der Lebensform „Familie“ hinausläuft. Ferner wird erörtert, wie die philosophische Forschung zur Vermittlung von Kirche und Moderne, auch am Denkort von „Geschlecht“, beitragen könnte.

Abstract

The paper discusses recent statements expressing the official position of the Catholic Church concerning the topic ‚gender‘. It explains, i. a., that claims to deduce traditional gender roles from the biological differences between men and women are based upon a naturalistic fallacy, and that the differentiation ‚sex/gender‘ allows to expose the shortcomings of both constructivist and naturalistic conceptions. The paper also shows why approaches focusing on the ‚dignity of the woman‘ are bound to undermine the very aim they seek to achieve, and that the call for the elimination of the manifold injustices marking gender relations today does not imply a distancing from ‚family‘ as a form of life. One further issue of discussion is how philosophy might be helpful in bridging the existing gap between Church and modernity, also with regard to the issue of ‚gender‘.

Schlüsselwörter – Keywords

Genderismus, Würde der Frau, Diskriminierung, Gleichheit, Familie, Kirche und Moderne
Genderism, dignity of the woman, discrimination, equality, family, church and modernity

Einleitung: Geschlechtergerechtigkeit als Desiderat

In praktisch allen Lebensbereichen sind asymmetrische Geschlechterverhältnisse anzutreffen, durch die Frauen mit vielfältigen Formen von Benachteiligung und Unterdrückung konfrontiert sind. Gewiss: die „Neue Frauenbewegung“, die sich ab den späten 1960er Jahren international entwickelt hat, konnte entscheidende Verbesserungen bewirken: In vielen „westlich“ orientierten Industrieländern wurden gesetzliche Maßnahmen zur Überwindung von Diskriminierung getroffen, wobei drei Dimensionen zu berücksichtigen waren. (1) Zunächst hatte die formale Gleichstellung der Geschlechter (z. B. im Arbeits- und Familienrecht sowie in den die Staatsbürgerschaft betreffenden Regelungen) Priorität. Doch zeigte sich bald, dass die formalrechtliche Gleichstellung der Frauen mit den Männern nicht ausreicht. Der generelle Befund, dass benachteiligte Individuen oder Gruppen oft außerstande sind, die Rechte, die ihnen de iure bereits zustehen, auch de facto in Anspruch zu nehmen, traf auch in diesem Fall zu. (2) Daher erwiesen sich sozialrechtliche Maßnahmen, die auf Chancengleichheit abzielen, als unverzichtbar. Unter dieser Perspektive kann auch eine befristete Ungleichbehandlung – etwa in Form von Quotierungen –, sofern sie der Behebung von Benachteiligung dient, als legitim ausgewiesen werden, wie in rezenten gerechtigkeitstheoretischen Forschungen dargelegt wird. (3) Doch genügt es nicht, dass die Frauen von Seiten des Staates gleich behandelt und speziell gefördert werden: Erforderlich ist auch partizipatorische Parität von Frauen und Männern, und zwar auf allen Ebenen, bis hin zu Bestrebungen um globale Demokratie. Die Dringlichkeit der zuletzt genannten Forderung betrifft auch die ökonomische Sphäre: Transnationale Regelungen werden heute zunehmend von demokratisch nicht legitimierten Akteuren für multinationale Konzerne als soft law festgelegt, wobei die in Einzelstaaten oft mühsam erkämpften arbeitsrechtlichen Gleichstellungsgesetze im Zuge der Auslagerung der Produktion häufig umgangen werden.

Die vielfältigen anhaltenden Formen der Diskriminierung von Frauen finden längst nicht nur auf nationalstaatlicher Ebene Beachtung, sondern auch in internationalen politischen Institutionen. Im Rahmen der Vereinten Nationen und der Europäischen Union werden laufend entsprechende Sozialstatistiken erstellt und darauf basierende Regelungen entwickelt. Doch zugleich ist offenkundig, dass die Forderung nach symmetrischen Bedingungen nirgendwo voll umgesetzt ist. Analysen der Einkommensschere, der weltweiten Feminisierung der Armut, der prekären Lage von Alleinerzieherinnen, der „gläsernen Decke“ (d. h., der Unterrepräsentanz von Frauen in gehobenen ökonomischen und politischen Positionen), der Gewalt gegen Frauen, einschließlich der sexuellen Gewalt und der Zunahme des internationalen Frauenhandels, lassen keinen Zweifel.

Das zentrale Anliegen der „Neuen Frauenbewegung“ kann also keineswegs als obsolet betrachtet werden. Hinsichtlich der weiteren Schritte zur Umsetzung dieses Anliegens ist zu bedenken: Die Überwindung von Diskriminierung und Unterdrückung obliegt nicht allein den Betroffenen selbst; im Blick auf den Rassismus wurde dies längst einsichtig gemacht. Anders gesagt: Alle diejenigen, die beanspruchen, dass ihnen Menschenrechte – ebenso wie Demokratie – ein Anliegen sind, können sich der Forderung nach Beseitigung jeder Form von Diskriminierung und Unterdrückung aufgrund des Geschlechts nicht entziehen, ohne in ihrem Anspruch unglaubwürdig zu werden. Hier tritt eine merkwürdige Spannung hervor: Während zum einen das Ziel der Gleichstellung von Frauen und Männern in allen Lebensbereichen aus der Perspektive des liberalen Verfassungsstaates nicht abweisbar ist, ruft zum anderen der Begriff „feministisch“, der geprägt wurde, um dieser Zielsetzung Profil zu verleihen, häufig eine Abwehrhaltung hervor. (An dieser Stelle scheint eine terminologische Klärung angebracht: Der Ausdruck „Feminismus“ ist ein Allgemeinbegriff, der die vielfältigen Bestrebungen zur Überwindung der Diskriminierung bzw. der Unterdrückung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts umfasst.)

Freilich kann mit den Mitteln der Gesetzgebung nur ein Stück des Weges zurückgelegt werden. Wichtig ist vor allem ein Wandel in der Denkweise, damit sich die diskriminierende Haltung gegenüber Frauen nicht immer wieder aufs Neue herstellt. Unter dieser Perspektive erweist sich ein öffentlicher Diskurs als nötig, der die herkömmlichen Ansichten über die Geschlechterdifferenz, welche die Basis der gegebenen Geschlechterordnung bilden, untersucht. Einige Überlegungen dazu werden im Folgenden ausgeführt; eine erste Conclusio geht indessen schon aus der einleitenden Skizze gegen wärtiger Probleme hervor: Wo der Begriff „Geschlechterverhältnisse“ allein auf sexuelle Beziehungen oder auf die Ehe bezogen wird, bedeutet dies eine unzulässige Verkürzung, da ja alle Lebensbereiche – auch die Berufswelt und die Sphäre der Politik – durch Geschlechterbeziehungen geprägt sind. (Auch dort, wo Frauen ausgeschlossen sind, wie dies lange bei Polizei und Militär der Fall war bzw. in manchen Ländern noch der Fall ist, liegt eine bestimmte Sicht beider Geschlechter zugrunde.)

1. Kirchliche Philosophie-Kritik

Stellungnahmen, die die offizielle Position der römisch-katholischen Kirche hinsichtlich der laufenden internationalen Debatte über das Thema „Geschlecht“ zum Ausdruck bringen, und die nicht nur kirchenintern, sondern – über verschiedene Medien – auch öffentlich bekannt gemacht wurden, formulierten u. a. die Forderung: „Wir brauchen eine neue Theologie der Frau“. Mitunter hatte diese Forderung auch die Form, dass es auf der Basis der kirchlichen Lehre einen „neuen Feminismus“ zu entwickeln gelte, der sich von der feministischen Theoriebildung der letzten Jahrzehnte entschieden absetzt. Ausgangspunkt dieser Forderung ist offenkundig die Auffassung, die von der „neuen Frauenbewegung“ initiierte Theoriebildung laufe letztlich auf eine „Vermännlichung der Frau“ hinaus und negiere die Bedeutung der Familie. In diesem Zusammenhang wird häufig auch jegliche Verwendung des Begriffs „gender“ als mit der katholischen Lehre inkompatibel bezeichnet; bischöfliche Autoren äußerten sich mehrfach abfällig über ein Denken, das sie „Genderismus“ nennen. Als ein theologisch fundiertes Programm wird dagegen oft die Fokussierung der „Würde der Frau“ dargestellt. – Auf diese Argumentationslinie nehmen die folgenden Ausführungen Bezug, wobei die Aufmerksamkeit darauf gerichtet ist, wie die amtskirchliche Position öffentlich – d. h., gläubigen und nicht-gläubigen Laien gegenüber – präsentiert wird. Der akademische theologische Fachdiskurs zum Thema „Geschlecht“ stellt sich insofern anders dar, als er von einer Pluralität der Stimmen geprägt ist und dadurch ein facettenreiches Bild bietet, welches nicht einfach auf das eben skizzierte Argumentationsprofil reduzierbar ist; doch sind kircheninterne Spannungen hier nicht Thema. Die Intention des Folgenden geht vielmehr dahin, die extern verlautbarte – mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit vorgetragene – kirchliche Positionierung aus philosophischer Perspektive zu betrachten.

Forderungen und kritische Kommentare der dargestellten Art greifen offenkundig über die Sphäre des innerkirchlichen Diskurses hinaus, nehmen sie doch Bezug auf Konzeptionen, deren Ausdifferenzierung in den letzten Jahrzehnten ein breiter internationaler Diskurs auch im nicht-theologischen Forschungsraum gewidmet war: Begriffe wie „Frau“, „Geschlecht“ und „Würde“. In diesem Diskurs hat sich eine philosophische Herangehensweise als maßgeblich erwiesen, was nicht zuletzt daran liegt, dass – wie Kant einsichtig machte – die Frage „Was ist der Mensch?“ den Leitfaden philosophischer Forschung bildet. Das heißt, die zitierte von kirchlichen Autoritäten geäußerte Kritik stellt, auch wenn dies oft nicht explizit geschieht, eine Beziehung zwischen kirchlicher Lehre und Philosophie her. Dieser Beziehung soll hier aus zwei Blickrichtungen näher nachgegangen werden: Zu sondieren ist zum einen, wie weit diese Kritik ihre Adressaten überhaupt trifft, und zum anderen, ob Differenzierungen der zeitgenössischen philosophischen Debatte als Anstoß für eine Re-Lektüre religiöser Kernkonzeptionen wirken könnten.

Zum ersten Punkt: Soll die Berechtigung der von amtskirchlicher Seite geäußerten Kritik ausgewiesen werden, genügt es nicht, auf etablierte kirchliche Lehren zu verweisen; zu untersuchen ist zunächst, worauf die Kritik eigentlich gerichtet ist. Dazu eine Vorbemerkung: Im Kontext sozialpolitischer Protestbewegungen werden oft plakative, übersimplifizierte Thesen vertreten; dies gilt auch für die Frauenbewegung der 1960er und 1970er Jahre. Es ist daher ein Leichtes, derartige Thesen aus der Perspektive einer differenzierten akademischen Theoriebildung als unhaltbar zu verurteilen. Doch ist zugleich festzuhalten: Eine kritische Auseinandersetzung – in welchem Themenbereich auch immer – kann sich nur dann als ernsthaft ausweisen, wenn sie die abgelehnte Position in ihren jeweils differenziertesten Ausformulierungen aufgreift. Es entspricht nicht der best practice theoretischer Diskurse, die jeweils simpelsten und damit angreifbarsten Artikulationen einer Problemstellung für das Ganze zu nehmen und auf dieser prekären Basis einen Rundumschlag zu vollziehen. Gewiss gilt es hier die Spreu vom Weizen zu trennen, doch ist dafür – wie in anderen Fällen auch – ein genaues Eingehen auf die thematisierte Materie unverzichtbar. Nicht zulässig ist es, bestimmte Begriffe ohne nähere Erkundung ihrer Bedeutung zu verurteilen. Dazu ein Beispiel: In der deutschsprachigen Nachrichtensendung von Radio Vatikan wurde am 28.12.2013 ein neu erschienenes Buch über männliche Heilige rezensiert, das mit der Begründung empfohlen wurde, es könne dem „gender mainstreaming“ entgegen wirken. Doch was hat man sich hier vorzustellen? Der Ausdruck „gender mainstreaming“ bezeichnet einen Grundsatz der Europäischen Union (festgelegt im Amsterdamer EUVertrag 1979/1989), der fordert, alle Regelungen daraufhin zu prüfen, ob daraus für bestimmte Gruppierungen eine Benachteiligung aufgrund des Geschlechts resultieren könnte. D. h., die Frage nach möglichen geschlechterdifferenten Folgen soll in den „mainstream“ der Begutachtung von Gesetzesvorlagen aufgenommen werden. Da dieser Grundsatz auf Männer ebenso wie Frauen anzuwenden ist, wurde er mit dem Allgemeinbegriff „Geschlecht“ („gender“) bezeichnet. Sollen nun die im rezensierten Buch vorgestellten männlichen Heiligen in der Tat gegen dieses Gerechtigkeitsprinzip in Stellung gebracht werden?

Vor diesem Hintergrund gilt es die rezenten Forschungen zum Thema „Geschlecht“ näher ins Auge zu fassen. (Für diejenigen, die bestens eingelesen sind, folgt nun eine Rekapitulation der ihnen vertrauten Materie, doch ist dies als Grundlage für das Weitere unverzichtbar.)

2. Der Begriff „Geschlecht“ in der rezenten Debatte


Den Ausgangspunkt der Forschungen bildete die Zweideutigkeit der alltagssprachlichen Ausdrücke: Während die Worte „männlich/weiblich“ zum einen auf die leiblichen Differenzen Bezug nehmen, bezeichnen sie zum anderen symbolische bzw. soziale Konstruktionen, wie z. B. dichotome Rollenvorstellungen, die auf den biologischen Unterschied projiziert werden. Das illustriert der Ausdruck „Damenschuh“: Dieser nimmt nicht auf eine anatomische Besonderheit der Füße von Frauen Bezug, sondern auf ein kulturelles Ideal, das Frauen der Oberschicht, die traditionellerweise „Damen“ genannt werden, betrifft. Das Begriffspaar „sex/gender“ wurde herangezogen, um die Unterscheidung zwischen dem „biologischen Geschlecht“ und dem „sozialen Geschlecht“ terminologisch zu fassen. Der Ausdruck „gender“ wurde der Grammatik entlehnt; er steht im Englischen für den Begriff „Genus“, der sich darauf bezieht, dass ein-und-derselbe Gegenstand in verschiedenen Sprachen einmal in maskuliner, einmal in femininer Form benannt sein kann, wie etwa: der Mond/la luna. Mit dem Wort „gender“ kommt auch die Historizität von Differenzvorstellungen in Sicht: In den verschiedenen Epochen der Geschichte und in unterschiedlichen Kulturen wurden der leiblichen Geschlechterdifferenz jeweils andere idealtypische Bilder zugeordnet. Die Forschung zeigte ferner auf, welche Auswirkungen die normative Funktion derartiger Geschlechterbilder hat: Da Kinder von klein auf dazu angehalten werden, sich wie ein „richtiger Junge“ bzw. ein „richtiges Mädchen“ zu verhalten, werden die sozialen Konstruktionen buchstäblich einverleibt – unser geschlechtstypisches Körpergebaren in Haltung, Mimik und Gestik ist von diesem normativen Hintergrund her zu verstehen. Das heißt: Der menschliche Körper ist von der frühkindlichen Sozialisation an kulturell gedeutete und gestaltete Leiblichkeit. Dass dies für unseren Körper generell (also nicht nur im Blick auf unsere Geschlechtlichkeit) gilt, zeigen etwa die Forschungen zu „body language“, aber auch schon Überlegungen Hegels, der in seiner Phänomenologie des Geistes die tiefere Bedeutung des Wortes „Gesichtsausdruck“ hervorhebt. Wie er erläutert, ist das menschliche Antlitz so durch persönliche Erfahrungen im kulturellen Kontext gestaltet, dass es nie bloß Teil eines Organismus ist.

Die Verwendung des Begriffs „gender“ läuft also keineswegs eo ipso auf eine These von der Art hinaus, dass die von Natur aus vorgegebene leibliche Differenz der Geschlechter in Abrede gestellt werden müsse. Mittels des Begriffspaars „sex/gender“ wird vielmehr geltend gemacht, dass wir am Denkort von „Geschlecht“ mit einer komplexen Relation von Natur und Kultur konfrontiert sind, wobei es sich so verhält, dass die vielfältigen Versuche, eines der beiden Elemente zu streichen, auf einen reduktionistischen Begriff des Menschen hinauslaufen. Eminente Bedeutung gewann diese Unterscheidung für die kritische Analyse herkömmlicher hierarchischer Geschlechterordnungen. Es konnte nun aufgezeigt werden, dass die jeweils leitenden Rollenbilder nicht einfach auf die biologische Differenz als solche zurückgehen, sondern auf Deutungen derselben aus dem Blickwinkel von historischen sozio-ökonomischen Kontexten. Dies geltend zu machen, ist nach wie vor nötig: Die Annahme, wonach die tradierten Geschlechterrollen in der biologischen Differenz von Mann und Frau verankert sind, ist – zusammen mit einem Insistieren auf entsprechenden gesellschaftlichen Normen – immer noch verbreitet, vor allem im Kontext naturrechtlicher Positionen. Dieser Annahme ist entgegenzuhalten, dass sie auf einem „naturalistischen Fehlschluss“ beruht; es ist geltend zu machen, dass Normen grundsätzlich nicht unter Verweis auf natürliche Gegebenheiten begründet werden können. Zieht man als Beispiel die gängige Verknüpfung kurativer Aufgaben mit dem weiblichem Geschlecht heran, so ist folgende Alternative zu bedenken: Entweder es handelt sich in der Tat um ein von Natur aus festgelegtes weibliches Verhaltensschema, dann ist eine Formulierung von Normen überflüssig; instinktgeleitete Vorgänge (wie etwa der Lidschlussreflex) bedürfen keiner normativen Regelung. Oder es geht um die Frage, wie die gesellschaftlich notwendige Betreuungsarbeit organisiert werden soll, dann stehen Normen zur Debatte, deren Rechtfertigung einen Rückgriff auf Prinzipien der Moral bzw. der Gerechtigkeit erfordert, wie dies für alle Normen gilt. Einfach erläutert: Wohl sind weibliche Körper (bei entsprechenden gesundheitlichen Voraussetzungen) in der Lage, schwanger zu sein, Kinder zu gebären und zu stillen; doch daraus leitet sich nicht eo ipso ab, wer die Windeln wechselt oder das Fläschchen zubereitet und verabreicht.

In den letzten Jahren ist indessen – in Anknüpfung an das Werk Judith Butlers – eine Auffassung in den Vordergrund der internationalen Aufmerksamkeit gerückt, welche die Unterscheidung „sex/gender“ mit der Begründung für obsolet erklärt, dass selbst die körperlichen Geschlechtsmerkmale, die wir als naturgegeben zu betrachten gewohnt sind, allererst durch sprachliche Konventionen generiert werden. Dass diese Auffassung nicht haltbar ist, wurde mittlerweile auf der Basis mehrerer Einwände nachgewiesen: Zum einen wurde der argumentative Zirkel aufgedeckt, der darin liegt, dass die Differenz, die angeblich sprachlich generiert wird, immer schon vorausgesetzt ist, sobald die Begriffe „männlich/weiblich“ verwendet werden. Ferner wurde moniert, dass die Generativität mit konstruktivistischen Mitteln nicht begreiflich gemacht werden kann. Überdies wurde, um den überzogenen Charakter der radikalen konstruktivistischen These zu erhellen, die Frage aufgeworfen, ob der Geschlechtsunterschied bei Tieren und Pflanzen ebenfalls als „Effekt des Diskurses“ verstanden werden solle. Kurz gesagt, gilt es zu differenzieren: Wohl trifft zu, dass die biologischen Charakteristika des männlichen und weiblichen Körpers im Lauf der Geschichte unterschiedlich beschrieben wurden, was auch den bekannten Wandel der Zeugungstheorien bedingte, doch teilen diese divergierenden Ansichten ein und dieselbe Grundintention: die unverfügbar vorgegebene Leiblichkeit denkend zu erfassen. Nur für die diversen kulturell konstruierten Geschlechtsrollen gilt, dass auf ihrer Basis jeweils bestimmte soziale Ordnungsmuster in der Tat geschaffen wurden.

Die zitierte Zurückweisung des sogenannten „Genderismus“ hätte eine plausible Pointe, würde sie auf die soeben erläuterten Defizite des Konstruktivismus abzielen; doch schießt sie über dieses Ziel hinaus, indem sie den Begriff „gender“ toto genere perhorresziert. Es gilt hier festzuhalten, dass es für eine fundierte Kritik an überzogenen konstruktivistischen Auffassungen nicht erforderlich ist, den Begriff „gender“ insgesamt zurückzuweisen und damit eine naturalistische Position zu beziehen. Auf diese Art würde nur eine Schaukelbewegung zwischen zwei gegenläufigen Reduktionismen entstehen. So tritt an diesem Punkt das Potential der Unterscheidung von biologischem und sozialem Geschlecht hervor, die erlaubt, einseitig naturalistische ebenso wie einseitig konstruktivistische Auffassungen als defizitär durchschaubar zu machen und die leiblich-symbolische Komplexität von „Geschlecht“ zur Geltung zu bringen.

3. Person, Gleichheit, Würde

Erst wenn man zur Kenntnis nimmt, dass Normen nicht aus körperlichen Gegebenheiten abgeleitet werden können, wird der Weg zu einer angemessenen Moral- und Rechtsphilosophie eröffnet. Wie Kant in der „Selbstzweck“-Formulierung des kategorischen Imperativs einsichtig macht, liegt der Kern unserer Moralität in dem Prinzip, alle Einzelnen, die von einer beabsichtigten Handlung betroffen werden können (dazu gehört man auch selbst), als Person zu respektieren. Wenn Kant das so erläutert, dass es Pflicht ist, die „Menschheit“ eines jeden „jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel zu gebrauchen“, so besagt dies, dass dasjenige, was uns als Menschen ausmacht und von allen übrigen Lebewesen abhebt, unsere Kompetenz zu handeln ist, näherhin unsere Fähigkeit Gut und Böse zu unterscheiden. Anders gesagt: unmoralisch handeln heißt, Menschen in genau jener Kompetenz, die ihre genuin menschliche ist, zu beschneiden, i. e., sie in ihrem Vermögen, Entscheidungen selbst zu treffen, zu behindern. Wird jemand (ohne gute Gründe) der Möglichkeit zu handeln beraubt, so bedeutet dies, dass der oder die Betroffene zu einer Sache gemacht, verdinglicht und für die Zwecke der handelnden Person instrumentalisiert wird. Der Begriff „Würde“ hat hier seinen Ort. Anders als den Dingen, die alle einen Preis als Äquivalent haben können, so zeigt Kant, kommt allen Menschen – aufgrund ihres Person-Seins (wodurch sie von Sachen unterschieden sind) – in gleicher Weise Würde zu; ein Mensch ist durch kein Äquivalent vertretbar. Daraus folgt, dass alle Einzelnen einen moralisch begründeten Anspruch haben, in ihrer Würde respektiert – d. h., nicht zu einem verfügbaren Ding degradiert – zu werden.

Von hier aus wird deutlich, dass herkömmliche Geschlechterbeziehungen in vieler Hinsicht moralisch fragwürdig sind. Demnach ist festzuhalten: Wo tradierte soziale Ordnungsmuster aufgrund ihrer hierarchischen Struktur zurückgewiesen werden, geht es nicht um einen Kampf der Geschlechter bzw. um einen Herrschaftsanspruch von Frauen (wie häufig unterstellt wurde), sondern um eine moralisch legitimierte Kritik, zu der keineswegs nur die unter den negativen Folgen der jeweiligen Asymmetrien Leidenden aufgerufen sind. Wie Kant erläutert, gehört zu unseren moralischen Pflichten auch die Parteinahme für von Unrecht Betroffene. Betrachtet man nun den in der europäisch-westlich geprägten Welt bis heute nachwirkenden (wenngleich meist nicht mehr rechtlich verbindlichen) bürgerlichen Entwurf von Geschlechterrollen, so tritt eine doppelte Subordination der Frau zutage: Die auf die häusliche Sphäre beschränkte Frau ist zum einen den in der öffentlichen Sphäre getroffenen politischen und ökonomischen Entscheidungen unterworfen, ohne daran partizipieren zu können; zum anderen ist sie ihrem Ehemann unterstellt, der als Familienoberhaupt alle für die Familie relevanten Entscheidungen zu treffen befugt ist.

Dass diesen Formen von Subordination die Forderung nach „Gleichheit“ entgegengesetzt wird, gibt oft Anlass zu Missverständnissen. So wurde der Verdacht geäußert – von dem hier bereits die Rede war –, es gehe letztlich darum, dass Frauen den Männern gleich, d. h. maskulin, werden wollten. Dagegen ist zu betonen, dass es zwischen einer inhaltlichen und einer formalen Bedeutung des Begriffs „Gleichheit“ zu unterscheiden gilt (die englische Sprache verfügt dementsprechend über zwei Ausdrücke für „Gleichheit“: „sameness“ und „equality“). Im modernen Verfassungsstaat kommt es auf die formale Bedeutung (equality) an, d. h. auf das Prinzip, dass die einzelnen Bürger und Bürgerinnen in gleicher Weise behandelt werden und die gleichen partizipatorischen Rechte haben müssen – ohne Ansehen ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Zugehörigkeit zu einer sozial, ethnisch oder religiös definierten Gruppierung, etc. Doch die Unterscheidung dieser beiden Wortbedeutungen geltend zu machen, reicht oft nicht aus, um den genannten Vorbehalt auszuräumen. Zwei verschiedene Stützargumente für denselben seien hier beleuchtet. Das eine lautet, dass Frauen eben gerade dann, wenn sie die ihnen zustehenden formalen Rechte ergreifen – z. B. in Form einer gleichberechtigten Partizipation im wirtschaftlichen oder politischen Leben – vermännlicht werden. Demgegenüber gilt es zu differenzieren: Gewiss trifft zu, dass die öffentliche Sphäre den Einzelnen abverlangt, bestimmte strategische Verhaltensweisen auszubilden, um sich bewähren zu können; doch dass diese Verhaltensmuster aufgrund der herkömmlichen Geschlechtsrollen vorwiegend von Männern kultiviert wurden, bedeutet nicht, dass sie biologisch im männlichen Geschlecht verankert wären, sie sind vielmehr durch die konkreten Bedingungen, z. B. des Konkurrenzdrucks, veranlasst. Das heißt, der Vorwurf, Frauen würden in der öffentlichen Sphäre vermännlicht, beruht letztlich auf dem oben erläuterten naturalistischen Fehlschluss.

Ein etwas anders gelagertes Stützargument besagt, gleichberechtigte Partizipation könne zwar sinnvoll sein, doch gelte es darüber hinaus, die Mutterschaft zu berücksichtigen; Überlegungen zur sozialen Ordnung müssten daher von dem spezifischen „Wesen der Frau“ ausgehen. In diesem Kontext wird der Forderung nach dem Schutz der „Würde der Frau“ Priorität beigemessen. Wie ist das so unterstellte „Wesen der Frau“ gedacht? Die Rede ist hier meist von Charakterzügen wie der fürsorglichen Zuwendung, der selbstlosen Liebe, der vermittelnden Verbindlichkeit. Nun liegt auf der Hand, dass unter den Bedingungen der traditionellen Rollenverteilung viele Frauen in der Tat diesem Bild entsprechen. Doch warum sollten Haltungen dieser Art nur von Frauen ausgebildet werden? Es ist signifikant, dass Kant die Verpflichtung zur Kultivierung dieser Tugenden aus dem kategorischen Imperativ ableitet; demnach sind alle Einzelnen dazu verbunden, in selbstloser Weise Hilfe zu leisten und das Glück der anderen so weit wie möglich (und moralisch zulässig) zu befördern. Diesem allgemein verbindlichen Tugendgebot entsprechen historische sowie soziologische Befunde. Signifikant ist etwa die sorgfältige Betreuung, die eine Reihe von Männerorden Schulkindern, Armen und Kranken seit Jahrhunderten zuteilwerden lassen. Kurz gesagt: Wo fürsorgliche Eigenschaften den Frauen qua Geschlecht zugeordnet werden, kommen sie gerade nicht in ihrem moralischen Wert in Sicht, da sie als natürliche Anlagen erscheinen. So hat auch diese Argumentation einen naturalistischen Zuschnitt. Eine diesbezügliche Unschärfe weist z. B. der Katechismus der Katholischen Kirche auf, wenn bezüglich des Verhältnisses der Geschlechter formuliert wird: „Jeder Mensch, ob Mann oder Frau, muss seine Geschlechtlichkeit anerkennen und annehmen. Die leibliche, moralische und geistige Verschiedenheit und gegenseitige Ergänzung sind auf die Güter der Ehe und der Entfaltung des Familienlebens hingeordnet.“ Der Begriff „Moral“ ist hier eindeutig mit der Verschiedenheit der leiblichen Natur verknüpft, und nicht mit der Personalität respektive der sie kennzeichnenden Kompetenz zu handeln, die Männer und Frauen in gleicher Weise als Menschen auszeichnet.

Näher betrachtet, betrifft die essentialistische Denkweise die beiden Geschlechter nicht in der gleichen Weise. Während hinsichtlich der Ehe und des Familienlebens das Verhältnis von Mann und Frau als „gegenseitige Ergänzung“ dargestellt wird, werden die außerhäuslichen Sphären nicht auf die sie prägenden Geschlechterbeziehungen hin erkundet, so dass die vielfältigen Formen der Diskriminierung von Frauen aufgrund des Geschlechts (wie sie in der Einleitung zu den vorliegenden Überlegungen thematisiert wurden) keine systematische Analyse erfahren. Die spezielle „Theologie der Frau“ tendiert dazu, die „moralische und geistige“ Kompetenz von Frauen so an Sexualität und Prokreation zu binden, dass sich eheliche und familiäre Aufgaben als die eigentliche Domäne der Frauen darstellen. Aus diesem Grund weisen kirchliche Lehrdokumente eine ungelöste Spannung auf: Die Rede vom „Wesen der Frau“ konterkariert das – in den neueren Dokumenten ebenfalls vertretene – Prinzip der Gleichberechtigung der Geschlechter. (Die Frage, wie die im Blick auf Ehe und Familie angesprochene gegenseitige Ergänzung von Mann und Frau zu denken ist, wird hier noch aufzugreifen sein.)

Die auf den Schutz der „Würde der Frau“ zielende Forderung erweist sich nun als zweideutig. Indem der Begriff „Würde“ hier für eines der beiden Geschlechter spezifiziert werden soll, erfährt er eine Rückbindung an körperliche Merkmale, wodurch der Blick darauf verstellt wird, dass der Begriff „Würde“ nur in Bezug auf die „Person“ Sinn hat, d. h. auf jene praktische Kompetenz, welche die differentia specifica des Menschen als solchen ausmacht, weshalb die Verwendung dieses Begriffs nur in der Bedeutung von „Menschenwürde“ angebracht ist. Kurz: Die Fokussierung der „Würde der Frau“ unterläuft gerade das, was sie zu schützen intendiert.

Die verbreitete Annahme eines fürsorglichen „Wesens der Frau“ hat verhängnisvolle Auswirkungen. Eine davon besteht darin, dass viele von Frauen erbrachte Leistungen nicht im vollen Sinn als Arbeit geschätzt, sondern eben als naturbedingt aufgefasst werden; die notorisch schlechte Bezahlung von Frauen in kurativen Berufen sollte in Verbindung damit gesehen werden. Ferner ist hier das Problem des Singulars zu beachten. Wird der Blick unter geschlechteressentialistischen Prämissen auf „die Frau“ gerichtet, so bleibt die Einzigartigkeit der Einzelnen – mit ihren jeweils besonderen Talenten, Interessen und Schwierigkeiten – unterbelichtet. Wie weit dies auch herkömmliche Konzeptionen der Mädchenerziehung und der sogenannten „Frauenberufe“ als eine Hypothek belastet, ist offenkundig.

4. Welche Liebe, welche Familie?


Ein anderer Vorbehalt gegenüber der Konzeption formaler Gleichheit moniert, diese laufe auf eine atomistische Isolierung der Einzelnen hinaus. Doch handelt es sich hier um ein Missverständnis, das sich durch Verweis auf die Differenz zwischen Recht und Moral bzw. Bürger und Mensch bereinigen lassen sollte. Die kontraktualistische Grundlegung des modernen Verfassungsstaats geht in der Tat von je einzelnen vertragsschließenden Parteien aus, und sie muss so vorgehen, um allen die gleichen Rechte zuzusichern; doch kommen die Einzelnen in der Vertragstheorie eben bloß als Bürgerinnen und Bürger in Sicht, nicht im umfassenden Sinn als Menschen. Unsere moralische Verpflichtung (als Menschen) bezieht sich hingegen auf alle Dimensionen unseres Lebens, und ihre Pointe liegt in der aufmerksamen Zuwendung zu anderen in ihrer individuellen Besonderheit. Kant bezeichnet daher eine moralische Verhaltensweise als „praktische Liebe“. Aus dem Blickwinkel der Geschlechterforschung ist wichtig, dass hier Liebe, indem sie von der Moral her bestimmt wird, nicht als in der Leiblichkeit der Geschlechter fundiert aufgefasst wird. Es gehört zu den gravierendsten Defiziten naturalistischer Konzeptionen der Geschlechterbeziehung, dass sie die Bindung inniger Liebe im Grunde nicht angemessen zu erfassen vermögen. Für traditionelle Konzeptionen ist der theoretische Weg eines Aufsteigens kennzeichnend: vom Eros (mit der Perspektive der Prokreation) über die allgemeine Nächstenliebe bis zur Relation zwischen Gott und Mensch und zur innertrinitarischen Liebe. Doch wird auf diesem Weg die Liebe als Verbundenheit von zwei Individuen in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit – wie auch die Alltagssprache sie als Idee der „wahren Liebe“ kennt – oft übersprungen. Ein Folgeproblem besteht darin, dass auch kein angemessener Begriff von „Ehe“ formuliert werden kann: Die naturalistische Auffassung geht vom Eros rasch über zur Familie mit ihren generationenübergreifenden Verantwortlichkeiten. Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang, dass die Ansicht, welche die Annullierung einer kinderlos gebliebenen Ehe als legitim betrachtet, nicht voll in den Blick nimmt, dass in der Regel eines von den beiden Eheleuten mit gebrochenem Herzen zurückbleibt – auch mit beschädigter Würde, da dieser Mensch ja darunter leidet, als Mittel zum Zweck der Elternschaft behandelt bzw. verworfen worden zu sein.

Eine philosophisch fundierte Forderung von symmetrischen Geschlechterverhältnissen läuft also keineswegs auf eine Abkehr von Liebe und Familie hinaus. Auch wo im politischen Kontext häusliche Erfahrungen von Demütigung, Unterdrückung und Gewalt artikuliert werden, geht es letztlich um die existenzielle Dimension des Bedürfnisses nach vertrauensvollen Gemeinschaften, persönlichen Naheverhältnissen und intimen Bindungen. Die Kritik an der traditionellen Familie ist dementsprechend von dem Anliegen getragen, die familiären Lebensformen so zu gestalten, dass sie den herkömmlichen geschlechterhierarchischen Zuschnitt hinter sich lassen und der gleichen Würde der einzelnen Beteiligten gerecht werden. Bei Hegel findet sich – nicht nur in den frühen Entwürfen über Religion und Liebe, sondern auch noch in den späten Vorlesungen zur Ästhetik – eine für die heutige Debatte anschlussfähige Zugangsweise, insofern die Idee der „wahren Liebe“ vom Geist her gedacht wird, und zwar so, dass auch die Leiblichkeit der Liebenden in die Bewegung des Geistes hineingenommen ist (im Unterschied zu einer abgespaltenen Sexualität); die leitende Denkfigur ist hier die vom Wort, das Fleisch geworden ist. Für Hegel stellt die „wahre Liebe“ so sehr einen Ort dar, an dem Menschen die Wahrheit darüber erfahren, was es heißt Geist zu sein, dass er sie als „weltliche Religion des Herzens“ bezeichnet. (Zu untersuchen wäre, wie weit sich diese Konzeption – über Hegels eigene Intention hinausgehend – auch zur Deutung gleichgeschlechtlicher Bindungen heranziehen lässt.)

Die kritischen Analysen herkömmlicher Geschlechterklischees brachten auch eine neue Perspektive auf die Generationenfolge und damit auf die Familie hervor. Indem bei aller Kritik durchaus ernst genommen wird, dass wir jahrelang der aufmerksamen Zuwendung durch andere, die nicht der eigenen Altersgruppe angehören, bedürfen – zunächst als Kinder und schließlich im Alter –, erhält die Frage nach einem der Gegenwart angemessenen Verständnis von Familie Brisanz. Doch so manche heute öffentlich vorgetragenen Plädoyers für „die Familie“ machen es sich zu leicht, indem sie ihr Verständnis von Familie nicht zu legitimieren suchen und oft unterstellen, dass alle diejenigen, die hinsichtlich der von den traditionellen Geschlechterrollen bestimmten Familienkonzeption Bedenken aussprechen, „die Familie“ toto genere ablehnen. Dazu ist im Gegenteil festzuhalten, dass diese Bedenken von der Problemstellung getragen sind, wie heute – nicht zuletzt im Blick auf gegenwärtige ökonomische Verhältnisse – generationenübergreifende Bindungen in einer dauerhaften Form gestaltet werden können. Der Bedarf für eine geänderte Sichtweise erschließt sich aus dem oben Ausgeführten: Es geht nicht länger an, die vielfältigen in der häuslichen Sphäre anfallenden Aufgaben – von den kurativen Verpflichtungen bis zu Reinigungstätigkeiten – einer der Frau unterstellten „natürlichen Berufung“ zuzuordnen. Als weiterführend erweist sich hier u. a. Michaels Walzers Studie Sphären der Gerechtigkeit, die plausibel macht, dass die Familie eine Reihe von Distributionsebenen umfasst, ist sie doch Ort der Verteilung von so unterschiedlichen Komponenten wie: Einkommen, Hausarbeit, Freizeit und nicht zuletzt emotionelle Zuwendung, wobei jede dieser Ebenen ein spezifisches Konfliktpotential enthält, das nach diskursiver Vereinbarung verlangt. Ein diesbezüglicher Mentalitätswandel hat bereits eingesetzt: Immer mehr Menschen suchen heute die tagtäglich gelebten innerfamiliären Beziehungen auf der Basis reziproker Gleichachtung in jeweils besonderer, den Bedürfnissen und Anforderungen der beteiligten Individuen entsprechender Weise zu gestalten. Diese Art der wechselseitigen Ergänzung und Unterstützung lässt sich jedoch mit geschlechteressentialistischen Kategorien nicht angemessen erfassen. Wenn etwa Eltern die Betreuung ihrer Kinder untereinander aufteilen, wie es von ihren jeweiligen beruflichen Zeitregimes her praktikabel ist, oder wenn sie den finanziellen Bedarf der Familie gemeinsam aufbringen, oder wenn sie sich bei einem Familienausflug am Steuer des Autos abwechseln, so handelt es sich um pragmatische Interaktionen zwischen mündigen Individuen. Gewiss, solche Arrangements werden vor dem Hintergrund der Gefühlsbindung und des geteilten Anliegens einer harmonischen Gestaltung des Familienlebens gefunden und durchgehalten, doch beruht ihre glückende Umsetzung darauf, dass die Individuen sich als solche einbringen, und nicht auf einer „gegenseitigen Ergänzung“, die sich der „Verschiedenheit“ des Geschlechtscharakters von Mann und Frau verdanken würde.

Bei alledem ist zu beachten: Die Pointe ist hier nicht, Personen, die sich im traditionellen Familienarrangement wohl fühlen, zu kritisieren, sondern darauf hinzuweisen, dass sich für Familienstrukturen, die nicht den herkömmlichen Geschlechtsrollen „Alleinverdiener“ und „Hausfrau“ entsprechen, gute Gründe vorbringen lassen. Warum sollte das Thema „Familie“ auf ein einziges Strukturmodell eingeschränkt werden? Wenn es gilt, angesichts der sozialatomistischen Tendenzen, die sich gegenwärtig als Folge der neo-liberalen ökonomischen Bedingungen abzeichnen, die Bedeutung der Leitidee von Familie – der Idee des generationenübergreifenden Zusammenhalts – zur Geltung zu bringen, wäre ein starres Festhalten am herkömmlichen bürgerlichen Modell nicht zielführend. Hervorgetreten ist freilich auch, dass die Lebensform Familie unter heutigen ökonomischen Bedingungen in ihrer Stabilität bedroht ist, wenn die Strukturen der Berufswelt und der öffentlichen Erziehungsinstitutionen nicht entsprechend modifiziert werden. Es kommt also darauf an, alle Lebensbereiche so zu gestalten, dass sie den naturalistisch geprägten geschlechterhierarchischen Zuschnitt hinter sich lassen und der gleichen Würde der einzelnen Beteiligten gerecht werden.

5. Was könnte für kirchliche Stellungnahmen folgen?

Wenn sich nun die Frage stellt, welche Bedeutung Differenzierungen der eben ausgeführten Art im Kontext amtskirchlicher Auseinandersetzungen mit dieser Materie gewinnen könnten, so ist hier – aus philosophischer Perspektive – nur möglich, einen allgemeinen methodischen Rahmen zur Debatte zu stellen. Zunächst ist freilich die Problematik einer möglichen Gesprächsverweigerung zu thematisieren. Charles Taylor charakterisiert diese Gefahr in seinen Überlegungen zum Thema „Church and People. Disjunctions in a Secular Age“ auf nachdrückliche Weise. In Fragen der Geschlechtlichkeit, schreibt er, tendiert die Amtskirche dazu, die ethische und moralische Praxis in Gesellschaften des „Westens“ mit der Begründung zurückzuweisen, dass diese mit dem unhintergehbaren Wahrheitsanspruch der „natual law morality, built on abstract, unchanging and universal essences“ unvereinbar sei. Sollte Taylors Diagnose zutreffen und eine Haltung dominieren, die sich von der Überzeugung leiten lässt, dass die geschlechteressentialistische Konzeption nicht mehr verhandelbar, sondern als quasi dogmatisiert zu betrachten ist, wäre für die hier erläuterten Differenzierungen der rezenten Debatte mit einem klaren Verdikt zu rechnen. Doch scheint die Forderung, dass eine „neue Theologie der Frau“ entwickelt werden müsse, in eine andere Richtung zu weisen; freilich gibt die Formulierung zur Frage Anlass, ob nicht vielmehr eine „neue Theologie der Geschlechterrelationen“ anzustreben wäre. Zunächst jedoch stellt sich die grundlegende Frage nach möglichen Ansatzpunkten für die geforderte Erneuerung.

Eine Überwindung der oft schroffen Gegenüberstellung von Kirche und moderner Welt könnte durch eine nähere Betrachtung der Moderne in Sicht kommen, welche auf die praktische Relevanz von Philosophie Bedacht nimmt. Signum der Moderne ist das Prinzip, die soziale Ordnung mittels einer öffentlichen, vernünftig nachvollziehbaren Argumentation zu regeln, zunächst in Form des Verfassungsstaates. Auf diese Verankerung der Gesetzgebung in der von allen geteilten Vernunft (das heißt: nicht mehr in kirchlichen Lehrtraditionen) bezieht sich der von Taylor verwendete Begriff „a secular age“. Wie sowohl Kant als auch Hegel – und in ihrer Nachfolge Autoren wie John Rawls und Jürgen Habermas – erläuterten, bedeutet der Anspruch, die Rechtsordnung durch vernünftige Argumentation zu legitimieren, dass die moderne Welt idealiter auf Philosophie gegründet ist, insbesondere auf die philosophisch legitimierbaren Prinzipien Freiheit und Gleichheit. Da aber diese Idee bislang nirgendwo auf der Welt angemessen umgesetzt ist, wie auch die hier thematisierten Geschlechterasymmetrien zeigen, bilden die Prinzipien Freiheit und Gleichheit zugleich den kritischen Maßstab, an dem die je konkreten Verhältnisse gemessen werden müssen. Das bedeutet: Die rechts- und moralphilosophischen Differenzierungen, die seit dem Denken der Aufklärung ausgearbeitet wurden, bilden nicht einfach die Basis der Moderne, der auch alle sozialen Pathologien der Gegenwart angelastet werden könnten, sondern zielen zugleich auf laufende kritische Analysen ab.

Aus dieser Perspektive betrachtet, könnte der philosophischen Forschung die Funktion einer Vermittlung von Religion und Moderne zukommen. Aufschlussreich ist hier, wie Kant und Hegel – von ihren ansonsten jeweils anderen systematischen Voraussetzungen her – übereinstimmend erläutern, dass Religion und Philosophie, insofern es beiden um Wahrheit geht, dasselbe Thema fokussieren. Mit kritischem Blick auf populäre pluralistische Ansichten formuliert: Wie es nicht zwei Moralen neben einander geben kann, weil damit die Kernfrage nach dem richtigen Handeln gerade nicht beantwortet wäre, kann es auch nicht zwei Wahrheiten geben. Dem entsprechend kann eine Gegenüberstellung von zwei Philosophien – etwa „Christliche Philosophie“ hier versus „Philosophie der Moderne“ dort – nicht das letzte Wort sein, da damit unterlaufen würde, was Philosophie eigentlich ausmacht: der argumentative Anspruch. Die sprachliche Gestalt ist in Religion und Philosophie freilich eine jeweils andere. Hegel erläutert dies in der Form, dass Religion Wahrheit in einer narrativen, an unsere Vorstellungsfähigkeit gerichteten Sprache ausdrückt, während Philosophie ein-und-dieselbe Wahrheit in argumentierender Begrifflichkeit formuliert. Damit rückt auf beiden Seiten die historische Einbettung in das Blickfeld. Wahrheit geltend zu machen erfordert, den erhobenen Anspruch den Menschen der jeweiligen Gegenwart nachvollziehbar zu vermitteln. Wo ein Lehrsatz nicht einsichtig gemacht wird, stellt er eine tote Worthülse dar, die uns keine Verbindlichkeit nahezubringen vermag. Das bedeutet für Glaubenstraditionen, dass diese sich nur dann lebendig erhalten können, wenn es der Theologie gelingt, die zentralen religiösen Inhalte in jede Zeit hinein neu plausibel zu machen.

Von diesen Prämissen her erscheint das Verhältnis von Religion und Moderne nicht mehr als unvermeidbar antagonistisch. Speziell auf das Christentum bezogen, liegt auf der Hand, dass sich in den biblischen Texten Gedanken von genau der Art nachweisen lassen, wie sie in den für die moderne Welt grundlegenden, wohl begründeten philosophischen Prinzipien formuliert sind. Die zentrale Stellung, die auf beiden Seiten der Begriff „Gerechtigkeit“ einnimmt, führt dies unmittelbar vor Augen. Um eine vordergründige Anpassung geht es hier nicht; die Pointe lautet vielmehr, dass eine Re-Lektüre der biblischen Texte unter Bedachtnahme auf die philosophischen Grundlagen der modernen Welt eine denkende Neu-Aneignung der religiösen Inhalte auf den Weg zu bringen vermag. Durch eine derartige denkende Bearbeitung ihrer Inhalte kann Religion ihr kritisches Potential erst überzeugend zur Geltung bringen: Auf dieser Basis erst kann die von Charles Taylor thematisierte Tendenz umgangen werden, dass die Kirche sich pauschal gegen ‚die moderne Welt‘ stellt und dabei auf eine vormoderne philosophische Position rekurriert, ohne die vielfältigen, wohl-argumentierten Einwände gegen dieselbe zu berücksichtigen. Vielmehr kann sie nun gezielt jene Elemente der gegenwärtigen Bedingungen aufzeigen, in denen bestimmten Individuen oder Gruppen Gerechtigkeit verweigert wird.

Der Prozess einer Modifikation der offiziellen katholischen Lehre auf dem Wege einer Auseinandersetzung mit den moraltheoretischen Einsichten der Philosophie der Moderne hat längst eingesetzt. José Casanova erläutert dies anhand des Wandels der kirchlichen Positionierung in der Frage der Menschenrechte. „There has been a relative tardiness of the Catholic Church in embracing the modern moral crusade of abolition of slavery, and the even more prolongued tardiness in embracing modern individual human rights, most particularly the right of religious freedom, as being grounded in the ‚sacred dignity of the human person‘. This can serve as paradigmatic illustration of the disjunction between evolving secular morality and resisting church morality, and of the resulting typical dynamics of aggiornamento, of catching up and of interpreting theologically the ‚signs of the times‘“. Casanova fährt fort, dass heute die dringliche nächste Aufgabe auf diesem Weg im Bereich der Geschlechtergerechtigkeit liegt: „Today the moral principles of liberty, equality, and the pursuit of happiness are converging most dramatically throughout the world around issues of gender equality, as well as gender and sexual morality.“

Dementsprechend ist auch hinsichtlich der Frage der Geschlechterverhältnisse die Aufgabe einer kritischen Durchleuchtung der amtskirchlichen Position in Auseinandersetzung mit dem moral- und rechtsphilosophischen Denken der Moderne virulent geworden. Die Voraussetzungen dafür scheinen günstig: Es dürfte nicht schwierig sein, verhärtete naturrechtliche Positionen im Rückgang auf die Bibel zu hinterfragen. In einem philosophischen Essay können dazu freilich nur laientheologische Überlegungen vorgebracht werden. Einen Modellfall könnte die Konstellation Martha/Maria bilden, deren Relevanz – z. B. in Predigten – verspielt wird, wenn unanalysiert bleibt, dass hier die Frau gerade nicht auf eine häusliche Rolle eingeschränkt, sondern zu theologischem Interesse ermutigt wird. Häufig wird heute der Eindruck erweckt, dass Martha – entgegen der biblischen Pointe – die Oberhand gewonnen hat. Eine vergleichbare Ausblendung intellektueller Kompetenz droht auch in den Bezugnahmen auf Edith Stein: Während im Rahmen der Kanonisierungszeremonie in Rom noch hervorgehoben wurde, dass man Edith Stein die Habilitation im Fach Philosophie aufgrund ihres Geschlechts verweigert hat, und während an die auf dem Petersplatzt versammelten Gläubigen der Text eines Abendgebets verteilt wurde, das sie speziell im Blick auf die Erfahrungen der berufstätigen Frau geschrieben hat, ist es, wie es scheint, im offiziellen kirchlichen Bild von Edith Stein um diese Themen in letzter Zeit still geworden.

Ein anderes Beispiel bietet die auf „Witwen und Waisen“ bezogene biblische Forderung, die in mehreren Varianten, auch schon in der hebräischen Bibel, vorliegt, auch mit explizitem Bezug auf „Gerechtigkeit“. Darin ist scharfsichtig zur Geltung gebracht, dass sich alleinstehende Frauen und Alleinerzieherinnen traditionell in der am meisten unterprivilegierten gesellschaftlichen Positionierung befinden. Genauer besehen, würde es nur eine halbherzige Umsetzung des biblischen Aufrufs darstellen, in Form von Almosen gerade nur die allernötigsten Voraussetzungen für das Überleben zu schaffen. Sich wahrhaft für benachteiligte Frauen einzusetzen, erfordert hingegen, die Ursachen zu beseitigen, die allererst die existenzielle Gefährdung generieren. An diesem Punkt kann Theologie sich wohlbegründet auf heutige Debatten zu einem ökonomischen und politischen „empowerment“, das nicht den traditionellen Rollen entspricht, einlassen, und dies ist auch global bereits im Gang. Doch heißt das nicht, dass Christ sein bedeutet, sich für die Bereinigung von sozialen Verwerfungen zu engagieren, die erst durch Feminismus und Gender-Diskurs in ihrer himmelschreienden Ungerechtigkeit voll in Sicht gebracht wurden?

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