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Leseprobe 2
Andreas Holzem
Ehe, Familie und Verwandtschaft als religiöser Lebensraum und Lernort
Skizzen von der Antike zur Moderne
I. Aktuelle Herausforderungen

Möglicherweise ist es die Angst vor der sozialen Unbehaustheit, die in den westlichen Gesellschaften der Nachmoderne dazu beiträgt, dass Ehe, Familie und Verwandtschaft neu in den Fragehorizont unserer Versuche der historischen Selbstvergewisserung treten. Dahinter steht der offenbare und in unserer Medienlandschaft mittlerweile geradezu breitgetretene Eindruck, dass unseren westlichen Gesellschaften, insbesondere der deutschen jedoch, genau dies, das stützende primäre Netzwerk, fehle. Partnerschaft, Liebe, Sexualität – das gibt es zuhauf, zumindest in der gesellschaftspolitischen Diskussion, in der Medialisierung von Sehnsucht und im Kommerz; aber:

Ehe? Familie? Verwandtschaft? In den großen Städten hat die Zahl der Ehescheidungen die Zahl der Eheschließungen erreicht, mit der Konsequenz, dass es Familiensoziologen immer schwerer fällt, anzugeben, was eine Familie denn eigentlich sei. Das bürgerliche Familienideal, unter dessen Eindruck wir nach wie vor leben, ist nicht mehr der Normalfall. Und die Verwandtschaftsnetzwerke, die das soziale Konstrukt ›Familie‹ tragen, haben an Funktionsfähigkeit, ja überhaupt gesellschaftlicher Spürbarkeit offenbar erheblich eingebüßt. Sie scheinen auch nicht mehr wirklich zu interessieren.

Dennoch kreisen familienpolitische Debatten weniger um die Familie und die Verwandtschaft, schon kaum noch um die Ehe, nicht um Emotionalität, Partnerschaft und Liebe, sondern um die Kinder. Wir machen uns ernsthafte demographische, teilweise gar rassistisch getönte Sorgen: dass Deutschland vergreise oder sich gar selbst abschaffe, weil Migranten mit vermeintlich weniger begabten Genen mehr Nachwuchs zeugten. Beschämend genug geht es dabei oft gar nicht um die Kinder selbst, gegen deren Spielstätten im eigenen gehobenen Wohnumfeld man Klagen vor Gericht einreicht, sondern um die Sozialsysteme, um die technische und wirtschaftliche Innovationsfähigkeit, aber schlicht auch um die Tradierbarkeit westlich-bürgerlicher, aufgeklärt-toleranter, bildungsgestützt demokratischer, diskursfähiger Kultur. Dass wir im internationalen westeuropäischen Vergleich zu wenig Kinder haben, und zwar gerade in den Kreisen der akademisch Gebildeten, ist mittlerweile ein statistisch festgeklopftes Dogma des Notstandsempfindens geworden, ohne dass in Politik, Wirtschaft und gesellschaftlichen Usancen ernsthafte Anstrengungen erkennbar würden, das zu ändern.

In diesen öffentlichen Debatten wird die historische Familien- und Verwandtschaftsforschung nur selten bemüht. Dass die Vergangenheit keineswegs ausschließlich funktionsfähige Lebensmodelle, gar einhegend vergemeinschaftende Idyllen bereit hält, war im deutschen Blätterwald selten mit solcher Eindringlichkeit zu lesen wie in dem familienbiographischen Artikel »Die Freiheit und ihr Preis«, den die Zeit-Redakteurin Sabine Rückert in der Serie »Wo sind die Kinder?« publizierte:

»Meine Urgroßmutter brachte 13 Kinder zur Welt, ich bloß eines. Auf einer bräunlichen Fotographie sehe ich sie sitzen, eine kleine Frau, müde von Pflichterfüllung und dem Dienst an Mann und Familie. Von ihren Kindern starben zwei unter der Geburt, drei starben in den ersten Lebensjahren. Acht wurden erwachsen, sie sitzen auf dem alten Bild um meine Urgroßmutter herum, vier Söhne, vier Töchter. Es ist eine letzte Familienaufnahme aus dem Jahr 1914. Von den vier Söhnen kehrten zwei von der Front nicht zurück, drei Töchter starben am Elend des Ersten Weltkriegs. Nur drei der dreizehn Kinder meiner Urgroßmutter wurden alte Leute. Zehn hat sie verloren. Es überlebten: mein Großonkel Wolfgang und meine Großtante Johanna, die beide keusch und damit kinderlos geblieben sind. Allein meinem Großvater Bernhard gebar seine Frau 1914 und 1916 unter Lebensgefahren zwei Söhne. Der Jüngere starb noch als Säugling bei einer Nabelbruchoperation. Übrig blieb nur einer – mein Vater. Heute, da ich selbst die 40 überschritten habe, treffe ich häufiger auf Leute, die sich aus dem Zeitalter des multimedialen Geplappers, der Kommunikationsexzesse und der globalisierten Belanglosigkeit ins Früher zurückwünschen, in eine Zeit da die Menschen bedeutender, ihre Gedanken ernster, ihre Gefühle tiefer, ihre Literatur größer, ihre Bauwerke vollkommener gewesen sein sollen. Eine Zeit, in der alles eine Ordnung, die Kinder eine Zukunft und der Einzelne seinen Wert gehabt haben, in der Ehe und Familie noch zuverlässige Größen waren. Dann denke ich an meine Urgroßmutter, von der ich nicht weiß, wann sie inkontinent wurde – nach der fünften Geburt vielleicht oder nach der siebten. Die von ihrem Mann mit groben Vorwürfen überhäuft wurde, wenn sie wieder schwanger war. Die ertragen musste, dass ihr dreijähriges Käthchen an der Kehlkopfdiphtherie erkrankte und einen qualvollen Erstickungstod starb, den heute kein westeuropäisches Kind mehr erleiden muss. Die ihre Söhne dem Kaiser opferte, sich selbst dem Ehemann unterwarf, alles ertrug, weil es gottgegeben war. Und ich bin dankbar, dass ich heute leben darf.«

Es dürfte nicht wenige Verwandtschaftserzählungen geben, in denen sich die Familiengeschichte der Moderne vergleichbar verdichten ließen. Sie machen ein Zusammenleben sichtbar, in das Krieg und Kaiser das Politische, männliche Vorwürfe gegen die Frauen das Soziale und Kulturelle und vermeintliche Gottgegebenheiten das Religiöse hinein verweben. Alles das ist Grund genug, über Ehe, Familie und Verwandtschaft in historischer Perspektive zu reden – in ihrer Verflechtung mit Wirtschaft und Politik, Kultur und Religion. Auf dem Weg von der Frauengeschichte zur Gender-Forschung und zur Geschichte von Familie und Verwandtschaft ist von den volkskundlichen Familien- und Ökonomievorstellungen des 19. Jahrhunderts, die sich zu Otto Brunners Begriff des »Ganzen Hauses« verdichtet hatten, nicht eben viel übrig geblieben.

II. Ehe, Familie, Verwandtschaft und die Rolle der Religion

1. Die religiösen Begriffe, Normen und Deutungsmuster

Die westlichen Religionen der Nachantike, das Christentum und das Judentum, nehmen auf Ehe und Familie in ihren heiligen Schriften zwar unterschiedlich, aber dennoch deutlich Bezug und prägen die westliche Kultur bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. In der Hebräischen Bibel (die in weitesten Teilen zum Alten Testament der Christen wird) dominiert familiale Zusammengehörigkeit bis dahin, dass die Stämmestruktur Israels aus einer Familienerzählung abgeleitet wird. Das Christentum lebt ebenfalls im Schatten dieser heiligen Texte, obwohl es von den biblischen Wurzeln des Neuen Testaments her zunächst eher eine verwandtschaftsfeindliche Religion ist: Der Glaube wirft Entzweiung in die Geschwister- und Generationenbeziehungen, Brüder, Kinder und Eltern liefern einander um des Evangeliums willen dem Tod aus; Vater und Mutter sollen um des Glaubens willen verlassen werden; Mitgetaufte und nicht Blutsverwandte sind Brüder und Schwestern; wer alles verlassen hat und Christus nachfolgt, nicht nur die engsten Familienmitglieder, sondern auch den Grund und Boden, auf dem und von dem er lebt, wird hundertfachen Lohn und ewiges Leben gewinnen; Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen wird zum Wert und später in der Christentumsgeschichte zur Quelle von Verdienst und potenziertem Lohn; die Toten sollen ihre Toten begraben; für Paulus ist die Heirat vor allem ein Heilmittel gegen Unzucht und verzehrende Begierde, sich einander zu entziehen mache frei für das Gebet; Ehelosigkeit sei kein Gebot des Herrn, aber angesichts der Kürze der Zeit und der bevorstehenden Not solle man eine Frau haben, als habe man keine; nur Unverheiratete seien ungeteilt zwischen der Sache des Herrn und den Dingen der Welt; das Verlassen der Heimat (d. h. der Verzicht auf Familie und Verwandtschaft) wird zum Stimulans der Mission und dann zu einem Kernmoment der Askese.
[...]


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