archivierte Ausgabe 4/2010 |
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Peter Hünermann |
Dis-soziation der Kirche? |
Schwindende Möglichkeiten der Identifikation mit dem Evangelium |
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I. Einleitende begriffliche Klärungen
Bei seinem Englandbesuch im September 2010 hat Papst Benedikt XVI. in seinen Ansprachen immer wieder für eine stärkere Präsenz und ein intensiveres Gehör des Evangeliums in der säkularen Öffentlichkeit geworben. Eberhard von Gemmingen schrieb bereits zu Beginn dieses Jahres: »Kardinal Joseph Ratzinger kritisierte wenige Tage vor seiner Wahl auf den Stuhl Petri die ›Diktatur des Relativismus‹. Die Auseinandersetzung zwischen der katholischen Kirche und dem modernen Relativismus scheint auch der zentrale Konflikt im Pontifikat von Benedikt XVI. zu sein. Er könnte damit den dogmatischen Kommunismus als Hauptgegner von Johannes Paul II. ablösen. Wenn dies so wäre, dann würden die Konflikte bisher in der Öffentlichkeit auf Nebenkriegsschauplätzen ausgetragen: bei den Piusbrüdern, bei Liturgiefragen wie der tridentinischen Messe und der Karfreitagsfürbitte, bei Aids und Kondomen … Die christlichen Kirchen stehen in unseren Jahren wohl vor einer der größten Herausforderungen ihrer zweitausendjährigen Geschichte: Glaube und Respekt gegenüber einer transzendenten Autorität weichen dem Pragmatismus; die hart erkämpfte Achtung vor der Würde jedes Menschen wird relativiert; bei wachsendem Reichtum werden Millionen zu Bettlern und der Globus geplündert. Das aber, was die breite (Kirchen-) Öffentlichkeit wahrnimmt, sind Randfragen.«
Wie entsteht Präsenz, wie findet das Evangelium in der Öffentlichkeit Gehör? Wie schwindet Präsenz in der Öffentlichkeit, wie verliert das Evangelium Gehör in der Gesellschaft? Ist es berechtigt, in der heutigen Gesellschaft so etwas zu konstatieren? Gehört, theologisch gesehen, das höchst unterschiedliche Ergebnis der Verkündigung des Evangeliums nicht zur Charakteristik, und zwar zur epochenübergreifenden Charakteristik der Evangelisierungsbemühungen? Jesus spricht im Gleichnis vom Sämann, der das Wort Gottes sät, von den ganz unterschiedlichen Weisen, wie das Wort Gottes aufgenommen wird: Einiges fällt auf den Felsen, einiges unter die Dornen, einiges auf den Weg, einiges schließlich auf gutes Erdreich (vgl. Mt 13, 3–9; 18–23). Wenn heute zu Recht von einer Krise der Kirche aufgrund mangelnder Präsenz des Evangeliums in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit gesprochen wird, dann können folglich nicht allein die grundsätzlichen Hemmnisse des Einzelnen im Blickfeld stehen, die für die ganze Zeit der Kirche, den ganzen Weg des Glaubens durch die Geschichte gelten. Wenn eine gravierende Krise herrscht, dann müssen spezifische, vielleicht strukturelle Momente verschärfend hinzukommen. Gibt es solche verschärfenden Momente und wie werden sie ausgelöst?
Die These, welche im Folgenden gleichsam erprobend einem Bewährungstest unterzogen werden soll, wird in der Überschrift angesprochen: Dis-soziation der Kirche? Dissoziation meint nach dem Fremdwörterduden Trennung, Zerteilung; Zerfall einer geordneten Einheit, eines Bewusstseinszusammenhangs. Diese Frage ist hier ernst gemeint: sie ist nicht um einer Effekthascherei willen gewählt. Sie bezieht sich auf die katholische Kirche in Deutschland. Die Ernsthaftigkeit der Frage stützt sich auf die Ereignisse im kirchlichen Leben in den Jahren 2009 und 2010, auf das jeweilige Echo dieser Ereignisse in der Öffentlichkeit sowie auf ausgewählte Erhebungen im Jahr 2009/2010 und kirchliche statistische Angaben.
In dieser Fragestellung wird vorausgesetzt, dass ein strukturelles Moment eine entscheidende Rolle spielt. Deshalb zunächst einige Anmerkungen zum Phänomen von gesellschaftlichen Dissoziationen. Am Ende des 20. Jahrhunderts ergeben sich eine Reihe von politischen und zugleich sozialen Auflösungsprozessen, die gegenüber früheren Zeiten ein Novum darstellen: Es sind gewaltfrei sich vollziehende Zusammenbrüche von Staaten und Staatsgebilden durch die Dissoziation ihrer kulturell-gesellschaftlichen Grundlagen, näher hin des Marxismus, verstanden als Staats- und Gesellschaftsdoktrin, und der damit verknüpften institutionellen, auch der staatlichpolitischen Strukturen. Dieser Typus von Dissoziationen – er hat eine gewisse Ausprägung bereits in der Auflösung der Militärdiktaturen in Lateinamerika in den 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre erfahren – beruht auf dem Faktum, dass jede große körperschaftliche oder soziale Ordnung eines Grundkonsenses der Mitglieder bedarf. Grundkonsens meint hier jene Übereinstimmung in Handlungszielen und Handlungsorientierung, die legitime, weil notwendige Felder der gesellschaftlichen Nicht-Übereinstimmung umschließt und so die Integration vieler Menschen an ihren jeweiligen Orten in ihrer je eigenen Verantwortung mit ihren individuellen Erfahrungen in eine Körperschaft allererst möglich macht. Das Gegenteil eines Grundkonsenses ist nicht nur der Dissens, sondern ebenso die eng gefasste »Communio«, die den Grundkonsens in Uniformität und Einlinigkeit umschlagen lässt. Sie widerspricht dem »weiträumigen « Charakter des Grundkonsenses.
Das politologische und soziologische Novum von zeitgenössischen Dissoziationen erklärt sich daraus, dass Grundkonsens wie Dissoziation durch die in der Moderne konstituierte Öffentlichkeit wesentlich medial vermittelte Größen sind. Diese Aussage umschließt mehrere Momente: Im Gegensatz zu Antike, Mittelalter und früher Neuzeit, in denen »Öffentlichkeit« noch gar keinen Begriff darstellte, wird Öffentlichkeit im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem gesellschaftlichen und politischen Schlüsselbegriff. Er umschließt wesentlich die »gesetzliche Garantie der öffentlichen Kritik an den Staatsorganen«. Die heutige Öffentlichkeit weist einen anderen Charakter auf: Sie ist wesentlich die durch Massenmedien vermittelte Öffentlichkeit.
Die durch Massenmedien vermittelte Öffentlichkeit kennt selbstverständlich politische, kulturelle, religiöse Autoritäten. Sie kennt die öffentliche Kritik. Es gibt die gesetzliche Presse- und Medienfreiheit. Dies aber geschieht in einem hochkomplexen Zusammenspiel mit der öffentlichen Meinung und ihren unterschiedlichen Trends und Gruppen. An den Milieustudien, wie sie im »Milieuhandbuch« der MDG vorliegen, ist diese moderne Öffentlichkeitsstruktur deutlich abzulesen: Diese Öffentlichkeit ist konstituiert durch eine fortwährende Wechselwirkung zwischen den Mitgliedern einer modernen Gesellschaft und der medialen Vermittlung. Dabei bilden sich unterschiedliche Lebenswelten aus, Gruppen mit ähnlicher Lebensauffassung und Lebensweise. Sie unterscheiden sich durch ihre »Alltagseinstellungen – zur Arbeit, zur Familie, zur Freizeit, zu Medien, zu Geld und Konsum«. Entscheidend ist, dass diese grundlegenden, keineswegs problemlosen Wertorientierungen medial repräsentiert, ständig an die Menschen herangetragen und spezifisch entfaltet werden. Die verschiedenen Milieus bevorzugen jeweils bestimmte Printmedien, nutzen das TV-Angebot oder Internet auf ihre Weise, wählen bestimmte Freizeitmöglichkeiten etc. Bei der Erfassung des Milieus bildet die eine, nämlich die quantitative Achse die Höhe des Einkommens. Die qualitative Achse wird durch unterschiedliche »Lifestyle«-Typen mit ihren jeweiligen ästhetischen Eigenheiten und den korrespondierenden Ethos-Formen gebildet. Den fließenden Prozess von Milieubildungen sieht man am deutlichsten an den jungen Alterskohorten der Bevölkerung. Er manifestiert sich aber ebenso in den jeweiligen Altersstrukturen der Milieus oder dem Verschwinden ganzer Milieus.
Das Verschwinden von Milieus geht relativ rasch vor sich, da die mediale Vermittlung, die weniger und weniger »rentiert«, sehr schnell schrumpft. Dies hängt zusammen mit der Ökonomisierung der Massenmedien und dem Kampf um die Einflussdichte in den Milieus. [...]
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