Theologische Quartalschrift - Startseite
Startseite » Archiv » Ausgabe 1/2022 » Leseprobe 1
archivierte
Ausgabe 1/2022


Titelcover der archivierten Ausgabe 1/2022 - klicken Sie für eine größere Ansicht


Alle Inhalte für Sie

Die aktuelle Ausgabe 4/2023 stellen wir Ihnen komplett im PDF-Format zur Verfügung.

Ausgabe 4/2023
im PDF-Format lesen ...



Jahresverzeichnis 2023


Aktuelles Jahresverzeichnis


Jahresverzeichnis 2023
als PDF PDF.



Wir über uns

Unsere Schwerpunkte und Akzente finden Sie hier.


Die Schriftleitung


stellt sich hier vor.


Suche in Artikeln

Leseprobe 1 DOI: 10.14623/thq.2022.1.5–24
Gregor Dobler
Muße und Religion?
Ethnologische Anmerkungen zu ihrem Verhältnis

Zusammenfassung
In der europäischen Philosophie und Theologie werden Muße und Religion oft in engen Zusammenhang gebracht: Muße wird als Voraussetzung von Kontemplation und Erkenntnis verstanden, die wiederum für religiöse Praxis nötig seien. Diese Vorstellung lässt sich – so ein Hauptargument des Artikels – nur aufrechterhalten, indem man sowohl Muße als auch Religion normativ auf bestimmte Praxen einengt und ihnen so einen Teil ihrer Sprengkraft nimmt.

Der Artikel entwickelt diese These zunächst anhand einer Kritik von Josef Piepers Buch „Muße und Kult“. Gegen den engen Mußebegriff Piepers setze ich anschließend eine empirisch offene Begriffsbestimmung von Muße und zeige, dass Religion und Muße einander ebenso positiv wie negativ gegenüberstehen können.

Wie fruchtbar eine empirisch offene Untersuchung des Verhältnisses von Muße und Religion sein kann, versuche ich abschließend mit einem religionsethnologischen Beispiel aus dem Norden Namibias zu illustrieren. Anglikanische und charismatische Gottesdienste auf ihr Verhältnis zur Muße hin zu befragen, so meine Argumentation, ermöglicht eine Kritik an Victor Turners Unterscheidung zwischen transformativem Ritual und affirmativer Zeremonie. Auf eine normative Vorabbestimmung von Muße als religionsaffin zu verzichten, öffnet einen Raum fruchtbarer empirischer Forschung und ermöglicht es damit, Muße wie Religion klarer und allgemeiner zu verstehen.

Abstract
European philosophy and theology have often presented otium (Muße) as closely linked to religion. They see otium as a necessary precondition for contemplation and theoretical insight, which are in turn perceived as crucial elements of religious practice. I believe that this notion of a close link between otium and religion can only be maintained by normatively narrowing down both religion and otium to specific affirmative practices, which eliminates much of their critical potential. In the first part of my paper, I develop this argument in a critique of Josef Pieper’s book Muße und Kult. In the second part, I present an empirically open definition of otium and show that otium and religion can hinder as well as serve each other. In the final part, I argue that an empirically open inquiry into the relation between otium and religion could be fruitful for understanding both. Then, in a short ethnographic case study, I analyze the relation between otium and Anglican and charismatic church services in northern Namibia. This analysis includes a critique of Victor Turner’s distinction between transformative ritual and affirmative ceremony. It illustrates my main point: if we refrain from defining otium and religion as necessarily linked, we gain the space for fruitful empirical inquiry into their relation, which can ultimately help us to better understand both religion and otium.

Schlüsselwörter/Keywords
Muße; Religion; religiöse Praxis; Josef Pieper; Namibia; anglikanische Gottesdienste; charismatische Gottesdienste; Victor Turner; transformatives Ritual; affirmative Zeremonie
Leisure; religion; religious practice; Josef Pieper; Namibia; Anglican worship; charismatic worship; Victor Turner; transformative ritual; affirmative ceremony

Im Nachhinein kann ich mir schwer erklären, wie ich Thomas Jürgaschs Angebot annehmen konnte, einen Aufsatz zu „Muße und Religion“ für diese altehrwürdige Zeitschrift zu verfassen. Es muss wohl eine Mischung aus Tollkühnheit, Sorglosigkeit und persönlicher Verpflichtung gewesen sein, die den gesunden Menschenverstand besiegt hat. Wie soll man über das Verhältnis zweier Konzepte schreiben, deren schillernde Begriffsgeschichten jeden Konsens über ihre Definition verhindern, die dabei aber in unterschiedlichen Konstellationen in einen so engen normativen Bezug zu einander gebracht wurden, dass jeder Ideologieverdacht gegen den einen Begriff auf den anderen überzugreifen droht?

Es wäre schwer genug, eine Geschichte der unterschiedlichen Verhältnisbestimmungen zu schreiben, die christliche Theologie zwischen Religion und Muße vorgenommen hat. Das Problem wird ungleich größer, wenn man – wie es dem durch ethnologische und religionswissenschaftliche Perspektiven geprägten Verfasser als unumgänglich erscheint – Religion aus ihrer Engführung auf Lehrmeinungen lösen und Muße von ihrer einseitigen Bestimmung durch den Bezug auf Kontemplation und Erkenntnis befreien will. Dann erscheinen Mußepraktiken als ebenso amorph und schwer abgrenzbar wie gelebte Religion. Der Versuch, ihr Verhältnis zu bestimmen, gleicht dann nicht allein (wie Religionswissenschaft allgemein) dem Unterfangen, gewissermaßen Pudding an die Wand zu nageln, sondern wird vielmehr zum Versuch, zwei recht dünn geratene Sorten Pudding fest an einander zu schnüren.

Kurz: Ich glaube nicht, dass meine Aufgabe als klare Verhältnisbestimmung zweier fester Größen lösbar ist – es sei denn, man betriebe normative Theologie unter dem Denkmantel anthropologischer Sprache. Was ich stattdessen versuchen möchte, ist zweierlei: Ich möchte zunächst meine Kritik an eben jener Engführung zwischen Kontemplation oder Gotteserkenntnis und Muße genauer begründen, die von aristotelischen Vorstellungen herkommend in unterschiedlichen christlichen Traditionen wirksam geworden ist. Muße, so möchte ich argumentieren, ist ein offenerer Raum, der sich solchen klaren Zuschreibungen immer wieder entzieht. Deshalb bleiben auch die Zusammenhänge zwischen Muße und Religion komplex und vielfältig. Im zweiten Teil des Aufsatzes möchte ich einige Varianten ihres Verhältnisses zueinander darstellen, um im dritten Teil schließlich zu zeigen, was sich trotz der Uneindeutigkeit beider Begriffe doch an empirischen Fragen gewinnen lässt, wenn man sie nach ihrem Verhältnis fragt.

Eine allgemeine Theorie von Muße und Religion wird sich daraus allenfalls in negativer Form ergeben: als Hinweis darauf, dass sich der Freiheitsraum der Muße immer wieder der Einengung auf theologische Konzepte entzieht, dass in ihm aber neben vielem anderen auch religiöse Erfahrung und kritisches Nachdenken über die Welt ihren Platz finden.

1. Muße und Kontemplation

Beginnen möchte ich mit der Darstellung und Kritik des in Deutschland wohl meistrezipierten Werkes der letzten hundert Jahre zum Verhältnis von Muße und Religion: Josef Piepers Buch „Muße und Kult“ von 1948.

Pieper steht für die Erneuerung einer in der europäischen Philosophie und Theologie entscheidend gewordenen Engführung zwischen Muße und Kontemplation. Er versucht, die aristotelische Bestimmung von Muße als Raum der theōria mit Thomas von Aquin theologisch gewendet in die Moderne zu übertragen.1 Wenn ich Piepers Argumentation im Folgenden kurz darstelle, möchte ich vor allem zeigen, wie stark die Verbindung von Muße und Kontemplation die anthropologische Möglichkeit von Muße einengt und sie an ein partikulares Konzept des Menschlichen knüpft. Diese Partikularität ist bei Pieper Programm; sein Buch ist eine Zeitkritik, mit der er kurz nach dem Ende der faschistischen Diktatur in Deutschland im Begriff der Muße gegen den Primat der Verwendbarkeit und Nützlichkeit des Menschen verteidigt, was er als Kern abendländischer Tradition sieht. Die Möglichkeit dieser Zeitkritik am Begriff der Muße erkauft er dabei aber mit einer Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Muße, die ebenso elitär wie eurozentrisch ist und die in meinen Augen heute ihrer kritischen Aufgabe nicht mehr gerecht werden kann.

Pieper sieht seine Zeit gekennzeichnet durch ein Überhandnehmen der vita activa: durch Ideologien, die Arbeit und Aktivität ins Zentrum des Menschenbildes stellen und zu zunehmender Selbstvergessenheit des Menschen führen. Dagegen stellt er eine Traditionslinie der kontemplativen Muße, die er von Platon bis Thomas von Aquin ungebrochen im Mittelpunkt anthropologischer Auseinandersetzung sieht.2

Muße führt uns, so Pieper, über uns selbst hinaus. Wie bei Aristoteles scholē der Ort der theōria ist, so ist sie bei Pieper Ort der Fähigkeit des Menschen zur Offenheit für nicht errungene, sondern geschenkte Erkenntnis. Erst die Muße macht den Menschen offen für Transzendenz. Er öffnet sich für das, was über ihn hinausführt, und kommt so dem Göttlichen nahe. Diese Bewegung zum Göttlichen hin darf dabei nicht als menschlicher Willensakt und als erreichbare menschliche Leistung gesehen werden: Sie widerfährt dem Menschen als eine Gnade, die sich einstellen kann, wenn er seine Selbstvergessenheit überwindet und sich um das Menschliche und um das Göttliche sorgt.

Solche Sorge ist für Pieper der Kern des Kultes. Deshalb findet der Mensch auch im Kult und im wahren Fest erst seinen Ort. Hier lässt er die Gedanken der Nützlichkeit und des Machbaren hinter sich und wird offen für die Selbstüberschreitung hin zum Göttlichen. Bei Pieper wird Muße so zur Voraussetzung und zum Ort wahrer Religion, die wiederum Voraussetzung wirklichen Menschseins ist. Kultische Praxis schafft den einzigen Rahmen, innerhalb dessen wahre Muße sich einstellen kann: „Abgetrennt vom Kult wird Muße müßig und Arbeit unmenschlich.“3

Es ist nicht verwunderlich, dass sich diese philosophische Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Muße für christliche Theologie als anschlussfähig erwiesen hat. Die jüngste Neuausgabe des Buches erschien 2007 mit einer bewundernden Einführung des damaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Kardinal Lehmann. Piepers Gedanken dürften nahe am theologischen Common Sense stehen, was die Bedeutung der Muße für die heutige (Arbeits-)Welt angeht.

Piepers Zeitkritik wurzelt in einem theologisch geprägten Menschenbild und ist aus der Auseinandersetzung mit zentralen theologischen Traditionslinien erwachsen. Aus diesen Traditionen übernimmt Pieper auch eine doppelte Engführung des Verhältnisses zwischen Muße und Religion: er erkennt nur das als Muße an, was Kontemplation und Erkenntnis des Göttlichen zu fördern geeignet ist – und er versteht als Religion nur, was mit solch geschenkter Erkenntnis und Transzendenz zu tun hat.

Betrachten wir beide Engführungen etwas genauer. Zunächst: Wie bestimmt Pieper Muße? Für ihn ist klar, dass Muße ihren Ort nicht im schlechten Alltag finden kann. Sie braucht einen Sonderraum, der nicht von Sorgen oder Produktivität gekennzeichnet ist, sondern von echter Sorge und Produktivitätsentlastung. Nur in diesem Rahmen lässt sie sich verwirklichen.

Das ist zunächst durchaus kompatibel mit anderen Kritiken am kapitalistischen Alltag, der Menschen Zeiten der Zentrierung und Selbstbesinnung nur dort erlaube, wo sie seiner radikalen Logik der Nützlichkeit entkommen – etwa mit dem Entfremdungsbegriff des jungen Marx. Doch die Möglichkeit, solchen Alltagsbestimmungen zu entkommen, ist bei Pieper dann auf einen einzigen Kontext eingeengt. Allein die mit transzendentalem Anspruch auftretende Radikalität der Religion erlaubt es, die Logik der Nützlichkeit zu durchbrechen. Ohne Kult gibt es keine Muße, sondern nur „Afterformen der Muße“.4

Schon das allein wäre für areligiöse Menschen eine betrübliche Neuigkeit. Ihnen wäre nicht allein jede Möglichkeit von Muße verschlossen, sondern mit der Muße wäre ihnen auch jede Chance entzogen, aus der Entfremdung und der Bestimmung durch Nützlichkeit auszubrechen. Sie mögen glauben, Muße zu haben, aber täuschen sich darin notwendigerweise.

Dieser Diagnose können sie auch nicht entkommen, indem sie Muße durch menschliches Wirken in einen neuen Kontext setzen – etwa indem sie einen neuen (nicht religiösen?) Kult entwickeln, aus dem heraus Muße neu entstehen könnte: „Es gehört zur Natur des Kultes, dass er aus göttlicher Setzung seinen Ursprung nimmt.“ Das meint Pieper durchaus nicht nur als Beschreibung eines inneren Anspruches von Kult; „für den Christen“, schreibt er, gebe es „selbstverständlich […] nur noch eine wahre und letztgültige Gestalt kultischer Feier […], die sakramentliche Opferhandlung der christlichen Kirche.“5

Spätestens damit führt Pieper den anthropologischen Anspruch ad absurdum, mit dem seine Bestimmung der Muße auftritt. Muße verwandelt sich von der allgemein menschlichen Möglichkeit, sich nicht durch Zweckbestimmungen determiniert zu fühlen, zu einem partikularen Privileg derer, die aus dem Geist christlichen Kultes leben. Wer nicht an der sakramentalen Opferhandlung der christlichen Kirche partizipiert, kann keine echte Muße haben und verfehlt damit das Menschsein.

Zur Frage, ob und wie sich Muße jenseits solcher starken Engführungen fassen lässt, komme ich im nächsten Unterkapitel. Hier sei nur festgehalten, dass Piepers Mußebegriff mir mit seiner Allgemeinheit nicht nur seine Radikalität, sondern auch seine Relevanz zu verlieren scheint. Welche reale Erfahrung konkreter Menschen ließe sich mit seiner Hilfe beschreiben? Was die meisten Menschen als Erfahrungen von Muße beschreiben, tritt oft unvorhergesehen und inmitten banaler Tätigkeiten ein – etwa in Routinearbeiten oder in der Langeweile eines Wartezimmers, in einem Museum oder einem Wald, in unserer Küche oder auf dem belebten Platz einer Stadt. Solche empirisch auftretenden Beispiele von Muße müssen in Piepers Argumentation durchweg als Beispiele der Aftermuße erscheinen.

Ebenso wenig spektakulär ist oft, was dann in Muße geschieht. Zwar verändert Muße unsere Wahrnehmung und bringt uns dazu, uns nicht mehr auf Notwendigkeiten zu konzentrieren, sondern uns von ihnen befreit zu fühlen; aber, wozu uns solche Freiheit befähigt und auf welche Weise sie wieder produktiv wird, bleibt prinzipiell offen. Muße kann uns durchaus zu Kontemplation und Erkenntnis führen; aber sie kann sich auch in spielerischer Kreativität, in analytischer Kritik unseres Alltags oder schlicht in einem Gefühl des Behagens in diesem anderen Verhältnis zur Welt äußern.

Es ist also ein sehr spezifischer und enger Begriff von Muße, der in Piepers Buch im Vordergrund steht. Seine Konzeption von Muße verbindet in aristotelischer Tradition Muße und theōria und bleibt damit ebenso elitär wie intellektualistisch, und sie knüpft Muße an eine bestimmte Form des kultischen Festes und bleibt damit blind für andere Spielarten mußevollen Handelns.

Der Zwilling dieses engen Begriffs von Muße ist Piepers enger Begriff von Religion. Wahre Religion ist für Pieper nur, was uns über uns selbst und unseren Alltag herausführt. Sie ist prinzipiell außeralltäglich, an eine Mischung von Übung und Gnade gebunden und geprägt durch das Zusammenfallen von Erfahrung und Erkenntnis. In echter Muße wie in echter Religion, so Pieper, erfahren wir Wahrheit, die gegen unseren Alltag steht und uns seine Gebundenheit deutlich macht. Wo Muße nicht zu einer solchen Erkenntnis von uns selbst führt – oder wo Religion sich im Befolgen von Ritualen erschöpft –, bleiben beide leer und verdienen ihren Namen nicht.

Damit werden echte Muße und echte Religion letztlich zu Synonymen. Eine solche Vorstellung von Religion steht durchaus im normativen Zentrum vieler Strömungen der europäischen christlichen Theologie. Eine solche Muße dürfte aber kaum geeignet sein, um Religion und religiöse Praxis allgemein zu beschreiben. Das wird nicht nur dann schnell klar, wenn man sie mit ethnologischen Beispielen anderer Religionen konfrontiert. Schon der Versuch, sie in den lebenspraktischen Alltag einzubetten, zeigt ihre Grenzen auf. Der Christ Josef Piper dürfte häufig in katholische Gottesdienste gegangen sein. Wie oft hatte er dabei Muße? Wie häufig erlebte er sie als wahres Fest oder als Gelegenheiten zur Transformation seiner Welt – und wie oft blieben sie äußere Übung und Alltagspraxis, ohne deswegen schon ihren Bezug zur Religion zu verlieren? Hatte der Gottesdienstbesuch für alle Gemeindemitglieder vor allem mit der Suche nach Erkenntnis zu tun? Falls nicht: War ihr Handeln deshalb weniger religiös?

Alles aus dem Bereich der Religion auszuschließen, was nicht zur Erkenntnis führt, macht Religion zu einer elitären, intellektualistischen und wohl auch esoterischen Praxis. Es vernachlässigt ein weites Spektrum möglicher Bedeutungen von Religion – von der technisch-magischen Veränderung der Welt über die Erfahrung von Gemeinsamkeit bis zur nicht transformativen, sondern bestätigenden Einordnung der Welt im Ritual.

Dieses sehr partikulare Verständnis von Religion anthropologisiert Pieper dabei nicht nur, sondern stellt es auch als wahre Grundlage der ‚abendländischen Kultur‘ dar. In seinem Bemühen, den positiven Kern seines Weltverständnisses als Kern des Abendlandes darzustellen und damit der Zeitströmung ex fontes widersprechen zu können, wird Pieper zum Fundamentalisten der Muße. „Eines der Fundamente der abendländischen Kultur ist die Muße“ – damit privilegiert Pieper in bewusster normativer Setzung eine Strömung des Denkens, die in der realen Geschichte nicht oft die Oberhand behalten hat.6 Dabei fragt er nicht, wie sich Muße zu anderen möglichen, aber weniger positiven Grundbestimmungen abendländischer Kultur verhält – etwa zu Gewalt, Krieg, Hierarchie oder Ausbeutung. Muße scheint die Fähigkeit zu haben, sie alle zu transzendieren, indem sie den Menschen über sich hinaus zur Wahrheit und zum wahren Menschsein führt.

2. Muße jenseits normativer Setzungen?

Es dürfte bis jetzt zumindest klar geworden sein, dass Muße und Kult ein anderes Thema behandelt als das, das mir gesetzt wurde. Pieper versucht nicht, das Verhältnis von Muße und Religion religionswissenschaftlich oder anderweitig empirisch zu bestimmen. Er setzt Muße wie Kult programmatisch gegen die Zeit. Dazu muss er den Begriff von Muße so einengen, dass er jeden Bezug zum realen Erleben der meisten Menschen verliert, und Kult so überhöhen, dass unklar wird, wo genau seine Idee von Religion sich verwirklicht. Damit machen seine normativen Bestimmungen von Muße wie von Religion aus seinem anthropologischen Thema ein christlich-intellektualistisches.

Der eigentliche Kunstgriff dabei ist definitorisch. Pieper definiert sowohl Muße als auch Religion so, dass sie ohne einander nicht denkbar sind, und leitet aus diesen Begriffen dann eine notwendige Beziehung beider zueinander ab. Unter dieser Voraussetzung lässt sich das Thema meines Aufsatzes tatsächlich schlüssig behandeln. Was aber kann man über das Verhältnis von Muße und Religion sagen, wenn man sowohl Muße als auch Religion als formale, empirisch unterschiedlich füllbare Konzepte versteht? Diese Frage wird mich durch den Rest dieses Aufsatzes leiten.

Meine Argumentation baut dabei auf dem Versuch auf, ein tatsächlich anthropologisches Konzept von Muße zu entwickeln – also eine allgemeine Bestimmung der Muße zu versuchen, die alle ihre konkreten historischen Bestimmungen als spezifisch einschränkende Varianten eines gemeinsamen Kerns erkennbar macht. Ein solcher Versuch der Anthropologisierung eines historisch gewordenen Konzepts entkommt nie dem Verdacht, selbst ideologisch zu sein und den eigenen Standpunkt zur allgemeinen Norm zu erklären. Ich bin mir – trotz zehn Jahre andauernder Diskussionen darüber im Rahmen des Freiburger Sonderforschungsbereichs Muße – keineswegs sicher, wie tragfähig und dauerhaft das Konzept von Muße ist, dessen Kernelemente ich nun kurz vorstellen möchte. Ich glaube aber weiterhin, dass der Versuch einer allgemeinen Bestimmung sich lohnt, weil er größere begriffliche und gedankliche Klarheit schafft und nicht zuletzt pointiertere Kritik ermöglicht.

Muße beschreibt für unseren Sonderforschungsbereich eine zeitlich begrenzte und vom gewöhnlichen Ablauf des Alltags abgesetzte Erfahrungsweise des eigenen Verhältnisses zur Welt.7 Der gewöhnliche Alltag ist in großen Teilen von Zwecken und Zielen bestimmt, die wir erreichen wollen, und von Normen, denen wir gerecht werden sollen. Sie bestimmen unsere Wahrnehmung der Zeit und sorgen dafür, dass wir ständig unter dem Einfluss von (teils selbstgewählten, teils fremdbestimmten) Notwendigkeiten stehen. Wenn wir Muße haben, hören diese Notwendigkeiten nicht einfach auf, aber sie verschwinden aus dem Fokus unserer Aufmerksamkeit. Wir achten nicht mehr auf sie und fühlen uns nicht mehr von ihnen bestimmt. An ihre Stelle treten Möglichkeiten – oder genauer: die Empfindung sozusagen der Möglichkeit von Möglichkeiten. Wir fühlen uns auf Zeit frei von Zwängen der Produktivität und damit auch frei, potenziell irgendeine neue Möglichkeit wahrzunehmen.

Sobald wir diese ergreifen, also aus der Muße heraus wieder aktiv werden, bringt auch sie wieder neue Handlungslogiken und Notwendigkeiten mit sich. Solange wir aber in der Muße bleiben, ist unser Erleben von Freiheit gekennzeichnet. Wir sind nicht produktiv, aber erleben gerade diese Unproduktivität als einzigartige Chance zu neuer Produktivität.

In diesem Zustand erfahren wir uns also anders als sonst. Muße schafft so eine Differenzerfahrung, derer wir uns oft erst im Nachhinein voll bewusst werden. Neben der Freiheit von alltäglichen Bestimmungen ist die Erfahrung von Differenz der zweite entscheidende Grund dafür, dass die Unproduktivität der Muße produktiv werden kann. Durch sie kann sich unser Verhältnis zu unserem gewöhnlichen Alltag verändern. Wir finden einen Erfahrungsraum, der zum Standpunkt von Kritik am Alltag werden kann.

Diese Konzeptionalisierung von Muße unterscheidet sich stark von der Josef Piepers. Sie versucht gerade, die Inhalte von Muße vorab festzulegen. Muße muss nicht in Kontemplation münden, damit wir sie als Muße bezeichnen können; sie muss nicht mit wahrer Erkenntnis verbunden sein und nicht mit Transzendenzerfahrungen. Wichtig ist allein, dass Menschen sich in ihr als auf Zeit vom Leistungsdruck befreit wahrnehmen und darin eine eigene Weise der Erfahrung erkennen, die sich von ihrem gewohnten Alltag unterscheidet und auf irgendeine Weise produktiv wird. Genau das unterscheidet Muße denn auch weiterhin von Nachbarbegriffen wie Freizeit, Erholung oder Faulheit.

Ich bin mir nicht sicher, ob eine solche Bestimmung von Muße sich tatsächlich als allgemein menschlich erweist. Ich denke aber, dass sie sich für die Analyse der unterschiedlichsten Gesellschaften fruchtbar machen lässt und dass von ihr aus zahlreiche inhaltliche Bestimmungen von Muße, die mit allgemeinem Anspruch auftreten, als normative Setzungen mit begrenzter Reichweite erkennbar werden – unter anderem die Engführung von Muße auf Kontemplation.

Während ich es notwendig finde, meinen Begriff von Muße möglichst genau zu umschreiben, muss ich auf eine analoge Klärung für den Begriff der Religion verzichten. Sie würde nicht nur über diesen Aufsatz, sondern auch über meine Kompetenzen hinausführen. Ich bin grundsätzlich skeptisch, ob es möglich ist, den Begriff von Religion aus seiner europäisch-theologischen Geschichte zu lösen und allgemein zu formulieren, ohne dabei entweder vorschnell mögliche Varianten von Religion auszuschließen (etwa durch den Verweis auf „Glaubensinhalte“ oder „Transzendenz“) oder vorschnell Religion von anderen Handlungsbereichen zu isolieren (etwa durch die Trennung menschlicher Vorstellungen in ‚natürliche‘ und ‚übernatürliche‘ Anteile). Das genauer zu diskutieren, ist aber hier nicht der Ort. Um trotzdem Aussagen über mein Thema treffen zu können, gehe ich pragmatisch vor: Ich schreibe über Phänomene, bei denen ich einen Konsens darüber vermute, dass diese dem Gebiet der Religion zuzuordnen sind. Jedes empirisch auftretende Beispiel für eine Beziehung zwischen Muße und Religion ist in konkrete gesellschaftliche Formen gefasst; es geht also immer um eine bestimmte, partikulare Erfahrung, nie um ‚Muße‘ oder ‚Religion‘ an sich.

Wenn ich von solchen Beispielen ausgehe, kann ich für die Aussagen, die sich daraus ergeben, keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit für Religion erheben; ich kann sie lediglich zur weiteren Prüfung in anderen empirischen Feldern anbieten. Lässt sich in den unterschiedlichsten dieser Erfahrungen etwas Gemeinsames finden, das allgemeine Aussagen zum Verhältnis von Muße und Religion möglich macht?

Der Rest dieses Aufsatzes besteht aus einem durchaus skeptischen Versuch, diese Frage zu beantworten. Im ersten, größeren Schritt möchte ich zeigen, dass Muße und Religion keineswegs immer positiv auf einander einwirken. Religion kann für Mußepraktiken und Muße für religiöse Praktiken förderlich sein, beide können einander aber auch schaden oder sich gegenseitig verhindern. Anschließend stelle ich an einem Beispiel, in dem jenseits dieser funktionalen Bestimmungen Religion selbst zu einer Mußepraxis wird, dar, wie fruchtbar die empirische Analyse von Religion und Muße für das Verständnis beider werden kann – gerade aufgrund der Vielgestaltigkeit ihres Verhältnisses.

2.1 Religion fördert Mußepraktiken

Ich habe oben argumentiert, dass es eine falsche Anthropologisierung einer Spielart der europäischen Geistesgeschichte bedeuten würde, eine klare Affinität zwischen Muße und Religion vorauszusetzen. Damit wollte ich nicht die Möglichkeit dieser Affinität leugnen. Sie lässt sich tatsächlich in vielen Arten religiöser Praxis empirisch beobachten.

Ein gutes Beispiel dafür ist die Institutionalisierung der Kontemplation im europäischen Christentum. Der Grundgedanke, dass religiöse Praxis eine kontemplative Hinwendung zu Gott beinhalten müsse, die die einzelne Person verändern und auf den Weg zum richtigen Leben führen könne, legte es nahe, Räume der Kontemplation im Alltag zu verankern. Mönchische Gebetszeiten, gemeinsame Gottesdienste oder Schweigezeiten etwa lassen sich als Versuche verstehen, aus religiöser Überzeugung heraus Mußeräume zu fördern. Auch Josef Piepers Buch steht in dieser Linie; er möchte aus einem religiös geprägten Menschenbild heraus Räume der Muße freihalten und neu schaffen.

Diese Förderung von Muße aus religiösem Impetus verhält sich den gewünschten Inhalten der Muße gegenüber selten neutral. Die Institution errichtet zahlreiche Schranken, die sicherstellen sollen, dass die Einzelnen den religiös gedachten Raum der Muße tatsächlich im Sinne der Religion nutzen. Dazu gehören äußere Schranken – Schriftlesungen während der Mahlzeiten etwa, rituelle Abläufe, eine klare Taktung des Alltags oder ganz allgemein die Kontrolle gemeinsamer Praxis. Die äußeren Schranken alleine können aber nicht sicherstellen, dass regelkonformes Verhalten auch mit dem gewünschten inneren Erleben einher geht. Deshalb sind oft die inneren Schranken sehr viel wichtiger, die durch Erziehung zum richtigen Gebrauch der Muße angelegt werden. Muße zu erlernen, heißt gleichzeitig immer auch, zu erlernen, was nicht als würdevolle Muße gilt (oder, theologisch gesprochen, die Grenze zwischen Inspiration und Anfechtung zu definieren). Erziehung zur Muße ist deshalb mit Disziplinierung verbunden, und wo Religion programmatisch Muße fördert, schließt sie emphatisch bestimmte mögliche Verwendungsweisen der Muße aus diesem Programm aus.

Das hat zwar Konsequenzen für das Mußeerleben der Einzelnen, aber es ist nie vollständig von Erfolg gekrönt. Da Muße nicht ohne Freiheit denkbar ist, kann sie auch gegenüber den Bestimmungen transgressiv werden, die sie erst ermöglichen, und religiös gedachte Muße kann recht weltliche Folgen haben. Wenn asketische Heilige die in der Kontemplation entstandenen Traumbilder dann im Nachhinein als Versuchungen kennzeichnen, hat das ihr Entstehen doch nicht verhindert.

Die Muße ermöglichende Funktion von Religion ist umso wichtiger, als religiös begründete Praktiken gesellschaftliche Wirkung weit über den unmittelbaren Kontext religiöser Praxis hinaus entwickeln können. Die Ideen des Sabbats, der Sonntagsheiligung oder der Feiertagsruhe haben über Jahrhunderte hinweg Räume der Muße vor Übergriffen produktivitätszentrierter Logiken geschützt und die Zeitpolitik vieler europäischer Gesellschaften strukturiert.8 Sie waren religiös begründet, gingen in ihrer Bedeutung aber immer weit über die religiöse Praxis hinaus. Auch hiergegen haben Vertreter:innen der Kirche oft protestiert und versucht, den Bezug zwischen feiertäglichen Mußeräumen und religiöser Praxis aufrechtzuerhalten – aber letztlich wurden durch das Gebot der Sonntagsheiligung aus religiösen Ideen heraus sehr unterschiedliche Mußeräume gefördert.

Empirisch lässt sich der Zusammenhang von Religion und Muße natürlich dort am leichtesten untersuchen, wo gerade jene Engführung von Muße und Kontemplation für ihn prägend wurde, die ich oben kritisiert habe. Schon in buddhistischen Meditationspraktiken, die auf die Aufhebung des Selbst und der individuellen Bedürfnisse zielen, wird es deutlich schwieriger, zu entscheiden, ob der angestrebte Zustand etwas mit Muße zu tun habe. Der Mußebegriff, den ich oben entwickelt habe, stellt das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft und von Freiheit und Fremdbestimmung in den Mittelpunkt. Damit bleibt er letztlich an die Vorstellung menschlicher Individualität und an individuell gedachte Subjektivität geknüpft. Vergleichende Untersuchungen können hier die Grenzen meines Mußebegriffes deutlich machen.

2.2 Muße fördert Religiosität

Es überrascht nicht, dass Muße dort Religion zu fördern vermag, wo vorab der Versuch erfolgreich war, Muße durch innere und äußere Schranken auf Religion zu beziehen. Aber kann Muße auch dort Religion fördern, wo sie nicht auf diese Weise mit religiösen Normen verbunden ist? Wieso überhaupt ist jemand irgendwann einmal auf die Idee gekommen, dass Muße für Religion wichtig sein und es sich deshalb lohnen könnte, Muße religiös zu disziplinieren anstatt sie (wie Faulheit und andere Laster) möglichst einzuschränken?

Diese Fragen dürfte man nicht mit empirischen Belegen für inhärent religionsfördernde Eigenschaften von Muße beantworten können. Niemand erfindet in seiner Muße aus dem Nichts heraus Religion; die Möglichkeit, Muße religiös zu konnotieren, ist immer schon im gesellschaftlichen Wissen angelegt und wirkt an der Strukturierung des Erlebens der Muße mit. Muße fördert Religion und religiöse Praxis nicht aus einem inhärenten anthropologischen Zusammenhang beider, sondern weil sie Freiräume schafft, die Konsequenzen haben können. Aus diesen Freiräumen kann vieles entstehen – darunter auch Religion.

Zunächst kann Muße Religion also einfach dadurch fördern, dass sie eine Einbruchstelle für Neues in den Alltag bietet. Damit kann sie auch religiösen Vorstellungen, religiösem Fragen oder manchmal auch religiöser Praxis Raum bieten, wo diese nicht sowieso schon im Alltag ihren Platz finden. Das wird dort noch verstärkt, wo religiöse Inhalte oder Praktiken in irgendeiner Weise gegen den Alltag gerichtet sind. Viele Religionen zielen ja auch auf eine Veränderung von individueller Alltagspraxis aufgrund einer individuellen Entscheidung oder eines individuellen Bekenntnisses. Wir sollen beschließen, unser Leben zu ändern. Ein solcher Beschluss, gleich wie groß oder klein seine Reichweite ist, braucht eine Grundlage. Wir müssen uns dafür unserem eigenen Alltag kritisch zuwenden und ihn nicht nur als verbesserungswürdig, sondern als durch uns veränderbar wahrnehmen.

Weil Routinen und pragmatische Ziele des Alltags in der Muße auf Zeit außer Kraft gesetzt werden, können Mußemomente einerseits einfach einen Freiraum des Nachdenkens bieten, in dem sich eine solche kritische Hinwendung zum Alltag entfalten kann. Andererseits erfahren Menschen sich in Muße als weniger fremdbestimmt als in vielen anderen Situationen. Dadurch wird Muße nicht nur zum Freiraum, sondern auch zum erfahrungsbasierten Anstoß für Kritik am Alltag. Sie zeigt uns in der Praxis, dass es auch anders geht, und gibt uns einen Raum, Konsequenzen aus diesem Wissen zu entwickeln.

Nur in diesem Sinne würde ich Muße denn auch als eine Transzendenzerfahrung beschreiben: als die alltägliche Erfahrung, dass unser Leben sich nicht in den Routinen des Alltags und in der Fremdbestimmung erschöpft. Diese Transzendenzerfahrung muss keineswegs religiös werden oder Religion fördern, aber sie kann es.

2.3 Religion verhindert Muße

Nicht immer existieren Muße und Religion einander wechselseitig fördernd in trauter Harmonie. Sie können einander durchaus auch schaden, einander verhindern oder in Konflikt mit einander geraten.

Der erste Grund dafür ist bereits deutlich geworden: Die Förderung von Muße durch religiöse Praxis ist keinesfalls bedingungslos. Jede Theologie und jede institutionalisierte Praxis religiös konnotierter Muße schließt bestimmte Varianten der Muße als das Gegenbild der Wünschbaren aus. Der selbstzweckhafte Moment der Muße ist ihr kein Selbstzweck, sondern erlangt seine Würde nur dadurch, dass er im Dienst anderer Zwecke steht. Deshalb darf aus religiöser Perspektive in der Förderung von Muße die Grenze zwischen Kontemplation und Faulheit oder zwischen gottgefälliger Besinnung und sündigem Nichtstun nicht verschwimmen.

Diese religiöse Normierung von Muße kann durch die selektive Förderung bestimmter Varianten der Muße Möglichkeiten der Muße insgesamt einschränken; vor allem aber beeinflusst sie die Verteilung der Chancen auf Muße in Gesellschaft. Wo religiöse Institutionen die Muße einzelner Gruppen fördern – etwa die einer Priesterschaft oder anderer religiöser Spezialist:innen – kann das in einer arbeitsteiligen Gesellschaft durchaus den Effekt haben, für andere Gruppen Spielräume der Muße zu schließen. Die von Pieper betonte Wichtigkeit der Muße im Christentum blieb denn auch immer dadurch in Frage gestellt, dass sie auf streng umrissene Felder und in den Lebensalltag weniger Menschen verwiesen wurde.

Zweitens betrifft in Religionen, die Lebensführung unter ethische Ansprüche stellen, die Ethik der Muße jeweils nur einen kleinen Teilbereich des Alltagslebens. Muße wird für manche Gruppen (etwa Mönche oder Ordensschwestern) in manchen Situationen wünschbar, ist aber überall eingebunden in zahlreiche andere Anforderungen an andere Bereiche des Lebens. Es gibt keine Mußeethik ohne Arbeitsethik, keine Förderung der vita contemplativa ohne Klärung ihres Verhältnisses zur vita activa, keinen Sabbat ohne Arbeitsalltag.9

Entsprechend sollte man sich bei der Analyse des Verhältnisses von Religion und Muße nicht dazu verleiten lassen, nur dieses enge Verhältnis allein zu betrachten. Wenn etwa Arbeit und Muße in Konflikt miteinander kommen, wird eine Religion, die sich insgesamt auf die Seite der Arbeit schlägt, Muße auch dann zu verhindern helfen, wo sie in einzelnen Fällen bestimmte Mußeräume wieder vor zu hohen Anforderungen durch den Arbeitsalltag zu retten versucht.

Dieser Zusammenhang steht im Mittelpunkt von Max Webers These, die protestantische Ethik habe die Entstehung und Durchsetzung des Kapitalismus gefördert, indem sie Menschen mit Hilfe von Heilsversprechungen zur planmäßigen Durchrationalisierung ihres Alltagslebens gebracht habe. Jegliche Art von Zeitvergeudung werde zur Sünde und zu einem Zeichen moralischer Minderwertigkeit (so etwa in Baxters Traktaten, die ja überhaupt Webers Hauptbeleg bilden).10 Weltlich gewendete religiöse Askese habe zur Entstehung einer Welt beigetragen, in der Muße keinen Platz mehr hat. Hier ist nicht der Ort, die historische Exaktheit von Webers Thesen zu diskutieren. Das Verhältnis der unterschiedlichen christlichen Bekenntnisse zu Arbeit und Freizeit ist vielfältig und hat sich stark verändert. Die Rolle der puritanischen Strömungen für die Entstehung des Kapitalismus dürfte deutlich geringer gewesen sein, als Weber es darstellte.11 All das ist für meine Argumentation nicht entscheidend. Hier kommt es zunächst nur darauf an, dass der von Weber konstatierte Zusammenhang möglich ist. Religion kann individuell wie gesellschaftlich das Verhältnis von Menschen zu ihrer Produktivität im Alltag prägen; damit können unterschiedliche religiöse Praktiken auch unterschiedliche Varianten der Muße fördern oder verhindern. Nicht umsonst hat der Historiker Peter Hersche seine Geschichte des katholischen Barockzeitalters in programmatischer Antithese zur protestantischen Ethik „Muße und Verschwendung“ betitelt.12 Dabei kann Religion auch dort Spielräume der Muße verändern, wo sie Muße selbst gar nicht thematisiert – etwa indem sie das alltägliche Verhältnis zu Produktivität verändert und Praktiken favorisiert, die dazu geeignet sind, Muße zu verhindern. Drittens ist es durchaus nicht ausgemacht, dass die Anstrengungen religiöser Institutionen, Muße kanalisiert zu fördern, tatsächlich den gewünschten Effekt haben. Fördert der Alltag im Kloster tatsächlich Muße, wo er ihr Raum geben soll? Macht die Feier des Sabbats den Alltag der Woche mußevoller oder ruheloser?

Diese Fragen haben zwei Aspekte. Der eine Aspekt betrifft die Folgen einer Neuverteilung von Zeiten der Muße. Wenn diese zu bestimmten Zeiten institutionalisiert gefördert werden, was geschieht mit der übrigen Zeit? Auch Max Webers Gewährsmann Richard Baxter beharrt ja auf der Heiligung des Sonntags; gerade das wird ihm aber zum Argument, auf der rationalen Organisation des Restes der Woche zu bestehen. Mit der Förderung von Mußezeiten muss sich also nicht unbedingt ein Nettogewinn an Mußemöglichkeiten einstellen.

Der andere Aspekt betrifft den individuellen Erfolg der Förderung. Stellt Muße sich tatsächlich dann ein, wenn sie sich einstellen soll? Muße ist ein zeitlich begrenztes Phänomen, das von der Abgrenzung lebt und in Zeiten der Nichtmuße eingebunden sein muss. Wenn eine Institution Zeiten der Muße organisiert, um Muße zu fördern, organisiert sie damit gleichzeitig den Rhythmus des Alltags neu. Welche Folgen das für die reale Muße konkreter einzelner Personen hat, ist schwer vorherzusagen.

2.4 Muße schadet religiöser Praxis

Religion kann also durchaus Muße verhindern. Umgekehrt kann auch Muße negative Folgen für Religion haben. Ich möchte hier nur zwei Varianten aufführen:

Wenn aus Muße – wie ich oben behauptet habe – Kritik entspringen kann, dann kann sich diese Kritik ebenso gut gegen religiöse Praxis richten wie gegen jede andere Form gesellschaftlicher Bestimmung. Die Freiheit der Muße kann auch religiöse Fremdbestimmung erlebbar und der Kritik zugänglich machen. Nicht nur die Gedanken der Kirchenväter kommen aus manchmal mußevollem Nachdenken, sondern auch die der Ketzer:innen, Reformator:innen und Religionskritiker:innen. Dabei dürften die Kritiker:innen zumindest in der europäischen Religionsgeschichte nicht selten Mußeräume genutzt haben, die von den offiziellen Institutionen der Religion geschaffen oder verteidigt wurden – Kloster- oder Gelehrtenstuben, sonntägliche Ruhe oder manchmal auch langweilige Predigten.

Ob solche Kritik an der gesellschaftlichen Form der Religion religiöser Praxis schadet oder nicht, ist dabei natürlich Ansichtssache. Oft hat sich im Nachhinein erwiesen, dass heftige Kritik an religiösen Institutionen und den von ihnen vertretenen Inhalten zu ihrer Erneuerung und Revitalisierung führte, aber das wird man sicher nicht von allen Religionskritiken behaupten können, die in oder aus Zeiten der Muße formuliert wurden. Entsprechend kritisch stellt sich auch von dieser Seite her eine enge Kopplung von Muße und Religion dar. Muße lässt sich auf Dauer ebenso wenig für die Religion vereinnahmen wie für andere Felder gesellschaftlicher Praxis.

Das zeigt sich zweitens auch im Alltag religiös konnotierter Muße. Ich habe schon oben die Anfechtungen der Mystiker:innen erwähnt. Nicht alle muße-induzierten Tagträume dürften in solch heroischer Umdeutung nachträglich in den Dienst der Religion gestellt worden sein. Ohne zu einer expliziten Kritik an Religion zu führen, kann Muße Menschen auch zeigen, dass ihnen andere Dinge wichtiger sind als religiöse Praxis. Wenn sie Menschen überhaupt auf neue Wege führen kann, dann kann Muße sie auch auf neue nichtreligiöse Wege führen.

Die steten Versuche institutionalisierter Religion, die Muße ihrer Adepten durch Regeln im Zaum zu halten, liegt auch in dieser Erkenntnis begründet. Schon Thomas von Aquin hat die Gefahren des beschaulichen Lebens und die Rolle von Alltagsdisziplin zu seiner Rahmung klar formuliert: „Da also durch die Leidenschaften Phantasiebilder hervorgerufen werden, welche das Schauen des Geistes hindern, deshalb trägt das thätige Leben nach dieser Seite hin, insoweit es die inneren Leidenschaften beruhigt, zum Frieden des beschaulichen bei.“13

2.5 Religion als Mußepraxis


Die vier unterschiedlichen möglichen Beziehungen zwischen Religion und Muße, die ich hier kurz beispielhaft aufgezeigt habe, zeigen vor allem eines: Eine feste Verhältnisbestimmung zwischen Religion und Muße lässt sich nur auf Kosten der Inklusivität der Begriffe treffen. Eine bestimmte, theologisch begründete und institutionell abgesicherte Religionsgemeinschaft kann einer ebenso deutlich abgegrenzten Form von Muße durchaus eine klare Stellung zuweisen. Aus ihrem Begriff von Muße schließt sie damit aber normativ viele andere empirisch auftretende Formen der Muße aus. Eine analytische Betrachtung, die dieses Verhältnis dann als allgemeingültig anthropologisiert, schließt zahlreiche Formen von Religion aus ihrem Gegenstandsbereich aus und kann ihrem eigenen Anspruch deshalb nicht genügen.

Was bleibt also über das Verhältnis von Muße und Religion zu sagen?

Meine Antwort darauf ist zumindest zwischen den Zeilen schon angeklungen: Wer sich für das Verhältnis von Muße und Religion interessiert und dabei normative Setzungen weitestmöglich vermeiden will, sollte das Thema empirisch angehen. Wie verhalten sich an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit und in einer angebbaren Gruppe religiöse Praktiken und Mußepraktiken zu einander? Was lässt sich daraus über eine konkrete Religion, konkrete Formen der Muße und konkreten Alltag lernen? Das sind bescheidenere, dadurch aber auch viel fruchtbarere Fragen. Ich bin überzeugt, dass man bei dem Versuch, Antworten auf sie zu finden, tatsächlich mehr über Religion und über Muße an sich lernen kann als durch vorschnelle allgemeine Antworten.

Das möchte ich abschließend sehr kurz an einem Beispiel illustrieren und schildern, wie sich in zwei unterschiedlichen Gottesdienstformen im Norden Namibias Muße und Religion auf jeweils spezifische Weise verbinden. Zeigen lässt sich so, dass wir aus dieser Verbindung etwas über Rituale allgemein wie über Muße allgemein lernen können. Die Frage nach der Muße ist also religionswissenschaftlich fruchtbar, und die Frage nach der Religion gibt Anstöße zum Verstehen der Muße.

Fast alle im ländlichen Norden Namibias lebenden Menschen verstehen sich als Christ:innen und gehören einer Gemeinde der ehemaligen anglikanischen, der katholischen oder der evangelisch-lutheranischen Missionskirchen an, deren Sonntagsgottesdienste sich stark an der jeweiligen global normierten Liturgie orientieren. Neben diesen etablierten Kirchen gibt es eine wachsende Zahl an kleineren und größeren charismatischen Gemeinden, zu denen man nicht qua Wohnort gehört, sondern die man aufgrund eigener Wahl besucht und die meist um einen Propheten herum organisiert sind. Ihre Gottesdienste laufen anders ab als die der etablierten Gemeinden; äußerst engagierte Gebete, Trance, Zungenreden und das Austreiben böser Geister überschneiden sich zu einem im genauen Verlauf und in der Dauer unvorhersagbaren rituellen Geschehen mit zahlreichen parallelen Erlebnissträngen.

Ich kann hier nicht im Einzelnen auf diese Gottesdienste und ihre soziale Einbettung eingehen; sie sind Thema der im Entstehen begriffenen Dissertation des SFB-Mitarbeiters Yannick van den Berg, der ich weder empirisch noch interpretatorisch vorgreifen möchte. Schon ein sehr oberflächlicher Vergleich beider Gottesdienstformen zeigt jedoch, wie sehr sie sich auch in ihrem Bezug auf Muße unterscheiden.

Die Gottesdienste der ehemaligen Missionskirchen sind in ihrem Mußebezug tatsächlich nahe an Josef Piepers Darstellung von Muße und Kult. Der regelmäßig wiederkehrende, allen bekannte Ablauf des Gottesdienstes schafft klar markierte Zeiten gemeinsamer Ruhe. Innerhalb eines zeitlich und örtlich abgegrenzten Sonderraums, dessen Ende vorhersehbar ist, entsteht durch den Wechsel von Singen, Beten und Zuhören eine bewegte, aber letztlich von klaren Zeitabläufen und Produktivitätszwängen entlastete Zeitdauer, in der Nachdenken, Träumen und Abschweifen ihren Platz finden. Unterstützt wird der rituelle Rahmen durch einen Ablauf klarer Körperhaltungen und durch häufige Signale, dass es nicht auf die individuelle innere Beteiligung ankommt, sondern auf die gemeinsame Anwesenheit und den Nachvollzug gemeinsamer Handlungen. Gerade dadurch können Menschen nicht nur im, sondern auch gegen den Ablauf des Gottesdienstes Mußeräume finden. Nichts fördert das Schweifen der Gedanken so sehr wie eine Predigt, der man nicht zuhört.

Ganz anders zeigt sich das Gefüge von Ruhe und Beteiligung in charismatischen Gottesdiensten. Hier findet sich kein klarer, verlässlicher Ablauf; keine Ruhe der gemeinsamen Form und keine Möglichkeit, im Abschweifen religiös konnotierten Frieden zu finden. Es geht darum, gepackt zu werden – von den Dämonen, deren Präsenz im eigenen Körper hier bemerkbar wird, vom Propheten, der die Dämonen unruhig macht und sie dazu bringt, sich zu zeigen, und schließlich vom Heiligen Geist, der sie vertreiben kann. Der Gottesdienst ist ein simultaner, aber je in unterschiedlichen Rhythmen erlebter Ablauf von Krise und Katharsis, von Manifestation des Unheils und Heilung. Hier gibt es keine Möglichkeit des Sich-Zurücklehnens; Abschweifen wird als Scheitern empfunden und die rituelle Transformation als Erfolg.

Es fällt uns wohl zunächst schwer, diesen kathartischen Ablauf mit Muße in Verbindung zu bringen. Dennoch sind hier alle Elemente vorhanden, die ich oben verwendet habe, um Muße zu definieren: die zeitweise Verdrängung des eigenen Ich in der Trance und Besessenheit entlastet radikal von Produktivitätsansprüchen; im Ritual verändert sich das Verhältnis zum Ablauf der Zeit; Alltagswahrnehmungen machen verändertem Erleben Platz, das die Teilnehmer:innen verändert zurücklässt und auf ihren Alltag zurückwirkt.

Warum scheint uns das so wenig mit Muße zu tun zu haben? Liegt es daran, dass irgendetwas im charismatischen Gottesdienst tatsächlich Muße unmöglich macht, oder ist der Grund unsere Tendenz, Muße weiterhin allein auf Kontemplation und bewusste Erkenntnis hin zu denken anstatt auch auf transformative nichtkognitive Erlebnisse? Das Verhältnis von Muße und Religion empirisch zu untersuchen, anstatt es normativ zu bestimmen, ermöglicht es, zu solchen Fragen zunächst einmal vorzudringen und sie auf eine Weise zu beantworten, die geeignet ist, unsere Konzepte zu verändern.

Das gilt auch entsprechend für die Religion. Beide Formen des Gottesdienstes als Möglichkeiten zur Muße ernst zu nehmen, ermöglicht uns auch, Grundbegriffe der Religionswissenschaft zu hinterfragen. Dafür möchte ich hier nur das Beispiel des Rituals nennen. Der charismatische Gottesdienst ist ein Paradebeispiel für ein Ritual im Sinne Victor Turners. Turner definierte das Ritual durch seine transformative Kraft und grenzte es damit von der Zeremonie ab: „Ceremony indicates, ritual transforms.“ Ritual versteht Turner als „a transformative self-immolation of order as presently constituted, even sometimes a voluntary sparagmos or self-dismemberment of order, in the subjunctive depths of liminality. One thinks of Eliade’s studies of the ‚shaman‘s journey‘ where the initiand is broken into pieces then put together again as a being bridging visible and invisible worlds. Only in this way, through destruction and reconstruction, that is, transformation, may an authentic reordering come about.”14

Genau das geschieht in einem charismatischen Gottesdienst. Persönlichkeiten werden in Frage gestellt, verdrängt, auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt, und was dabei eintritt, empfinden die Teilnehmenden als radikale (wenn auch durch den Alltag immer wieder in Frage gestellte) Transformation ihres Selbst.

Gegen diese radikale Transformation im Ritual erscheinen die Gottesdienste der ehemaligen Missionskirchen mit Turner als affirmative Zeremonien. Es geht, was immer auch die Inhalte der Predigten sagen mögen, nicht um eine radikale Transformation des Selbst, sondern um das Aufzeigen und die Vergegenwärtigung einer Ordnung. Diese Ordnung mag in Konkurrenz zu anderen Alltagsordnungen stehen und durchaus den Anspruch haben, diese ihrerseits zu transformieren, aber der Gottesdienst selbst ist eher affirmativ als transformativ.

So zumindest erscheint das Bild, wenn wir Turners klare Scheidung von Ritual und Zeremonie akzeptieren. Von einer Analyse der Muße aus wird aber gerade sie als zu einfach und vorschnell erkennbar. Wer entscheidet darüber – und wann entscheidet sich darüber –, welches Erleben transformativ ist? Muss die Transformativität im Ritual performativ erzeugt werden, wie charismatische Kirchen das versuchen, oder reicht es, wenn der Gottesdienst systematisch Einzelnen Räume der Selbstbestimmung und des Abschweifens anbietet, die diese nutzen können? Wenn Muße, wie ich behauptet habe, transgressives und kritisches Potenzial zukommt, dann kann der zeremoniale Ablauf auf andere Weise ebenso transformativ werden wie das Ritual. Gerade in Zeremonien können sich neue Räume des Eigenen ergeben, in denen Bewusstseinsspannung sich verändert und auf unvorhersagbare Weise Neues geschieht.

Vom Gedanken des transgressiven Charakters der Muße her erscheinen Ritual und Zeremonie also nicht mehr als konzeptuelle Gegensätze. Ihre institutionell definierte Intention mag sich radikal unterscheiden, aber ihre tatsächliche Wirkung auf Menschen lässt sich dadurch noch nicht voraussagen. Auch Anhänger:innen charismatischer Kirchen in Namibia sehen den Unterschied als einen der Form, nicht der Wirkung. Wie Yannick van den Berg gezeigt hat, unterscheiden sie zwei Formen der Heilung: das ‚fast healing‘ der charismatischen Kirche, deren Rituale schnelle und wirkungsvolle Veränderungen zeitigen, deren Nachhaltigkeit aber immer in Frage steht; und das ‚slow healing‘ der traditionellen Kirchen, die Menschen langsamer, aber nachhaltiger zu einer Veränderung führen können.

Diese ritualtheoretischen Fragen kann ich hier genauso wenig erschöpfend behandeln wie die mußetheoretischen oben. Mein Ziel dabei, sie zu erwähnen, war allein zu zeigen, was wir gewinnen können, wenn wir darauf verzichten, das Verhältnis von Muße und Religion vorschnell festzulegen, und es stattdessen als empirisch offene Fragestellung begreifen, die unseren Blick für Muße wie für Religion ebenso weiten wie schärfen kann. Dann werden beide Konzepte zu Suchbegriffen mit einem konzeptionellen Kern, die uns neue Blickwinkel und neue Überraschungen ermöglichen. Anstatt ihr Verhältnis für immer zu klären, helfen sie uns dann dabei, die Realität besser zu verstehen.

3. Abschluss: Muße und Religion?

Ich habe in diesem Aufsatz für einen inhaltlich offenen Mußebegriff plädiert. Ich verstehe Muße als Erfahrungsweise von Freiheit, deren konkrete Inhalte und Folgen zunächst offen bleiben müssen. Entsprechend habe ich am Beispiel von Josef Piepers Muße und Kult die verbreitete und für die europäische Geistes- und Sozialgeschichte folgenreiche Engführung von Muße und Kontemplation kritisiert.

Diese Kritik ist mir nicht deshalb wichtig, weil ich meine Definition von Muße gegenüber anderen verteidigen möchte. Solange wir die Existenz beider Phänomene anerkennen, ist es letztlich gleichgültig, für welches wir das Wort Muße verwenden. Wichtig ist mir die Kritik, weil die Verbindung von Kontemplation, Erkenntnis und Muße nicht neutral bleibt, sondern mit normativen Wertungen aufgeladen ist. Sie grenzt also „richtige“ (edle und ethisch hochstehende) Muße von „Aftermuße“ ab, ohne dass es dafür eine andere Begründung gebe als die auf einen engen Religionsbegriff bezogene eigene Wertung. Damit wirkt dieser Begriff von Muße ausgrenzend gegenüber anderen Weisen, Mußezeit zu verbringen, wie gegen andere Religionen, für die religiöse Praxis weniger stark an die Idee individueller Erkenntnis geknüpft ist. Nicht zuletzt verliert ein solcher Mußebegriff auch jede Tauglichkeit für empirische Untersuchungen; er lässt sich nicht an der Lebenswirklichkeit konkreter Menschen überprüfen oder schärfen.

Das habe ich im zweiten Schritt illustriert, indem ich anhand einiger Beispiele gezeigt habe, wie unterschiedlich sich Religion und Muße tatsächlich zueinander verhalten können. Muße kann Religion und Religion Muße ebenso fördern wie verhindern. Ihr beiderseitiges Verhältnis lässt sich nur dann eindeutig bestimmen, wenn zuvor in einem definitorischen Kunstgriff aus den jeweiligen Begriffen von Muße und Religion das entfernt wird, was die Harmonie stören könnte.

Trotz dieser Skepsis gegenüber allgemeinen inhaltlichen Bestimmungen des Verhältnisses zwischen Muße und Religion halte ich es für sehr fruchtbar, die beiden Phänomene in einer empirischen Suchbewegung aufeinander zu beziehen. Das habe ich im letzten Teil des Aufsatzes am Beispiel des Rituals illustriert. Die Frage, ob Muße und Religion im Norden Namibias etwas mit einander zu tun haben, hat uns neue empirische Untersuchungsfelder geöffnet und auch theoretisch zu einer Neubewertung der transformativen Wirkung unterschiedlicher Rituale geführt.

Es gibt, um die Beziehungen von Muße und Religion zu verstehen, keine definitorische Abkürzung. Wer sich für ihr Verhältnis interessiert, muss es untersuchen: an Beispielen konkreter religiöser Phänomene, für festgelegte Zeiten und für angebbare Menschen. Verstehen wir die Frage nach Muße und Religion auf diese Weise – eben als eine Frage, nicht als Aufforderung zur normativen Bestimmung eines wünschbaren Verhältnisses –, dann führt sie uns auf neue Wege und ermöglicht neue Einsichten über Muße wie über Religion. Auf solchen empirisch gestützten und in konkreten Zusammenhängen verankerten Einsichten lassen sich dann jene normativen Interventionen neu aufbauen, die weiterhin im Zentrum der praktischen Theologie und eines großen Teils der theologischen und philosophischen Anthropologie bleiben werden.

Doch warum sollte es überhaupt fruchtbar sein, dem Verhältnis zweier so unbestimmter Begriffe wie Muße und Religion nachzugehen?

Der Versuch, diese Frage über die Empirie meiner eigenen Forschungserfahrungen hinaus zu beantworten, führt mich ganz zuletzt dann doch noch auf das Feld einer Anthropologie von Muße und Religion. Ich weiß nicht, ob es einen anthropologischen Kern einer Verbindung von Muße und Religion gibt, doch wenn es ihn gibt, so liegt er für mich nicht in einer irgendwie gearteten inhaltlichen Verwandtschaft zwischen Muße und Religion. Vielmehr scheint mir die Möglichkeit einer fruchtbaren Verbindung zwischen Muße und Religion darin begründet, dass in beiden eine Grundspannung zwischen Freiheit und gesellschaftlicher Festlegung verhandelt wird.

Viele Formen von Religion stehen einerseits unter dem Anspruch, Menschen aus schlechten Bindungen zu befreien, leben andererseits aber von ihrer Festlegung auf bestimmte Formen, Inhalte und institutionsgebundene Pflichten. Damit schaffen oder verstärken sie die Möglichkeit einer Spannung zwischen dem einzelnen Menschen und seiner Einbettung in gesellschaftliche Kontexte. In der Erfahrung von Muße, wie ich sie oben beschrieben habe, wird genau diese Grundspannung thematisch. Deshalb kann sie überall dort, wo Religion gesellschaftlich wichtig ist, auch zu ihr in Beziehung gesetzt werden und Folgen für sie haben.

Diese Spannung zwischen Individuum und gesellschaftlicher Form ist dem religiösen Feld aber keineswegs spezifisch. Sie findet sich in so gut wie allen gesellschaftlichen Handlungsfeldern. Genau darin liegt der Grund dafür, dass Muße in so unterschiedlichen Bereichen Sprengkraft entwickeln kann – in kapitalistischer Lohnarbeit wie in Freundschaftsbeziehungen, in künstlerischer Praxis wie in Religion. Wir sollten diese Sprengkraft ernstnehmen, anstatt bestimmte Formen von Muße normativ für die Verteidigung eines Standpunktes zu vereinnahmen.

Anmerkungen
1 | Zu Muße und „theōria“ siehe etwa Thomas Jürgasch/Tobias Keiling (Hg.), Anthropologie der Theorie, Tübingen 2017; Andreas Kirchner, Dem Göttlichen ganz nah. „Muße“ und Theoria in der spätantiken Philosophie und Theologie. Tübingen 2018.
2 | Für eine Kritik dieses Kontinuitätsgedankens siehe Michael Vollstädt/Josef Pieper, Muße und Kult, in: Muße. Ein Magazin 2 (2016), 39–42.
3 | Josef Pieper, Muße und Kult, München 1948, 81.
4 | Pieper, Muße (wie Anm. 3), 81.
5 | Ebd., 87.
6 | Pieper, Muße (wie Anm. 3), 13f.
7 | Etwa Gregor Dobler/Peter Philipp Riedl (Hg.), Muße und Gesellschaft, Tübingen 2017; Jochen Gimmel/Tobias Keiling/ Joachim Bauer u. a., Konzepte der Muße, Tübingen 2016; Burkhard Hasebrink/Peter Philipp Riedl, Einleitung, in: Burkhard Hasebrink/Peter Philipp Riedl (Hg.), Muße im kulturellen Wandel. Semantisierungen, Ähnlichkeiten, Übersetzungen, Berlin/Boston 2014, 1–11.
8 | Jochen Gimmel, Vom Fluch der Arbeit und vom Segen des Sabbats. Überlegungen zu einer alternativen Traditionslinie der Muße, in: Dobler/Riedl (Hg.), Muße (wie Anm. 7), 335–377.
9 | Daniel Eder/Henrike Manuwald/Christian Schmidt (Hg), Vita perfecta? Zum Umgang mit divergierenden Ansprüchen an religiöse Lebensformen in der Vormoderne, Tübingen 2021.
10 | Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Tübingen 1920, 166ff.
11 | Siehe etwa Werner Conze, Arbeit, in: Reinhart Koselleck/Otto Brunner/Werner Conze (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 1: A–D, Stuttgart 1972, 154–215.
12 | Peter Hersche, Muße und Verschwendung: Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, Freiburg 2015.
13 | Thomas von Aquin, Summa Theologiae II 2, Qu. 182. Übersetzung entnommen aus: Thomas von Aquin, Die katholische Wahrheit oder die theologische Summa, Bd. 7, hg. Von Ceslaus Maria Schneider, Regensburg 1886–1892, 1054.
14 | Victor Turner, From Ritual to Theatre. The Human Seriousness of Play, New York 1982, 83f.


Zurück zur Startseite

Abonnements


Abonnements

Sie haben die Wahl ...

weitere Infos zu unseren Abonnements


Anzeigen


Mit Anzeigen und Inseraten erreichen Sie Ihre Zielgruppe. Anzeige aufgeben


Unsere Dienstleistung für Verlage, die Ihr Abogeschäft in gute Hände geben wollen.


aboservice

mehr
Informationen


Theologische Quartalschrift
Telefon: +49 (0) 711 44 06-140 · Fax: +49 (0) 711 44 06-138
Senefelderstraße 12 · D-73760 Ostfildern
Kontakt | AGB | Datenschutz | Impressum