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Leseprobe 3 DOI: 10.14623/thq.3.289-296
Michael Schüßler
„Dem Volk aufs Maul schauen?“
Kirche, Populismus und die Zukunft europäischer Demokratien im Lutherjahr
Das Reformationsjubiläum 2017 wird nicht allein von den religiösen und erinnerungspolitischen Ereignissen geprägt. Das Lutherjahr ist auch das Jahr, in dem die Zukunft der pluralistischen Demokratien Europas bedrohlich auf der Kippe zu stehen scheint. Seit man sich die katastrophalen Krisen in der Welt nicht mehr an den Außengrenzen Europas komplett vom Leib halten kann (Dublin-Verträge), sind auch die binnen-europäischen Länder unmittelbar mit geflüchteten und oft traumatisierten Menschen konfrontiert. Doch diese Erschütterung ist sicher nicht der einzige Grund, warum das demokratische Haus zu wackeln beginnt. Aus empirischen Studien weiß man um das anhaltende Potenzial autoritärer und fremdenfeindlicher Einstellungen auch in Deutschland (etwa die Leipziger „Mitte-Studie“ von 2016). In den vergangenen Jahren hat deren organisierte Sichtbarkeit mit Pegida, AfD und neurechter Bürgerlichkeit (Sarrazin) ebenso stark zugenommen wie ihre europäische Vernetzung. Anfang des Jahres sah es so aus, als könnte eine zentrale demokratietheoretische Paradoxie ihr selbstzerstörerisches Pozential tatsächlich freisetzen: Die pluralistische Demokratie schafft sich in freien Wahlen nach und nach selbst ab. Und seitdem die Briten durch einen von „Fake-News“ begleiteten „Brexit“ Europa abgewählt haben, glaubt wohl auch niemand mehr ungebrochen an das Fortschrittskonzept europäischer Einigung. Die Zukunft der bisher wohl längsten Friedenszeit des Kontinents ist offen.

Nun hat dieses Szenario im Sommer 2017 etwas an Dringlichkeit verloren. Wie auch immer man dazu steht: Mit den Wahlen in den Niederlanden (kein Sieg für Geert Wilders) und in Frankreich (Emmanuel Macron) ist der drohende Durchmarsch von Rechtspopulisten in europäischen Parlamenten vorerst gestoppt. Alles wieder auf Anfang also, Ende des Alarmzustands, Rückkehr zur „Normalität“? So fühlt es sich jedenfalls an. Doch allein, dass derart gefühlte Wahrheiten mittlerweile tatsächlich als Argument durchgehen, zeigt, dass dem eher nicht so ist. Das Lutherjahr markiert die neue Selbstverständlichkeit eines „postfaktischen Zeitalters“ (Merkel). Postfaktisch, das ist nicht nur ein intellektuelles Modewort (das auch). Es bringt mindestens zwei Beobachtungen auf den Begriff. Dass nämlich erstens Menschen in komplexen Fragen nicht primär rational handeln und entscheiden. Die „Embodied-Cognition“-Forschung kommt zum Ergebnis: „Wir treffen nie Entscheidungen, indem wir ‚rein sachlich und objektiv‘ Fakten gegeneinander abwägen. Nie.“1 Viel wichtiger sind etwa „Frames“, die aus oft unbewussten, praktischen Erfahrungsbündeln Bedeutung generieren. Dass das zweitens auch für die Wissenschaften selbst gilt, ist nicht als akademisches Plädoyer für „alternative Fakten“ misszuverstehen. Es verstärkt aber den lange bekannten Hinweis, dass auch (wissenschaftliche) Fakten hergestellt werden und Geltungsbedingungen haben, die selbst nicht rein wissenschaftlich sind. Fritz Breithaupt und Martin Kolmar schreiben pointiert: „Wissen und Fakten waren meist Ausreden zur Deckung unserer Ideologien und Affekte. … Und dies ist kein Problem mangelnder Bildung. Auch … ‚Gebildete‘ haben ihre postfaktischen Welten, ihnen fällt es nur leichter, diese narrativ clever zu erzeugen.“2

Das macht intellektuelle Sondierungen zu Populismus und Demokratie nicht einfacher. Andererseits könnte man sagen: Hat die Theologie in Sachen postfaktischer Wirklichkeiten nicht den längsten und komplexesten Erfahrungshintergrund? Weil sie quasi von Berufs wegen nie ohne die oft kontrafaktischen Hoffnungen und Wirklichkeiten des Glaubens zu haben ist? Wie aber bringen Kirche und Theologie diesen selbst wiederum pluralen Erfahrungshintergrund des Glaubens in die Debatten um Demokratie und deren populistische Herausforderung ein?

Sondierungen zu Kirche und Demokratie

Aus dem Verhältnis der Kirchen zur Demokratie lassen sich drei Aspekte herausgreifen. Erstens ist es entgegen aktuellen Plausibilitäten überhaupt nicht selbstverständlich, dass sich die Kirchen heute in einem zustimmenden Sinne auf freiheitlich-demokratische Staatsformen beziehen. Zwei Einsichten zu dieser verwickelten Beziehung müssen hier genügen. Zum einen scheint es aus Sicht der neueren Lutherforschung nicht möglich, den Beginn der europäischen Demokratien bis zum mittelalterlichen Reformator selbst zurückzuverlegen. Der Mensch bleibt bei Luther trotz aller Reformbestrebungen fundamental von einer vorgegebenen göttlichen Ordnung abhängig. Deshalb empfindet er „jede Änderung der monarchisch-feudalen Strukturen, die über die Beseitigung konkreter Missstände hinausgehen, als grundstürzenden Akt des Widerstandes gegen Gott“3. Ebenso problematisch wäre die Vermutung, die katholische Kirche habe sich ja schon immer für Menschen- und Freiheitsrechte eingesetzt. Das unterschlägt den fast revolutionäre Wandel von einer massiven Verurteilung demokratischer Freiheitsrechte im 19. und frühen 20. Jahrhundert hin zu einem erst langsam aus der eigenen Glaubenstradition heraus begründeten Eintreten für Demokratie, Religionsfreiheit und Menschenrechte. Den Pluralismus von Meinungs- und Gewissensfreiheit als „geradezu pesthaften Irrtum“ (Enzyklika Mirari Vos von 1832, DH 2731) abzulehnen, das prägte bis in 20. Jahrhundert hinein katholische Identitäten.

Zugleich entwickelt sich zweitens aus der christlichen Überlieferung heraus die Sozialkritik an einem Demokratieverständnis, das diese auf einen formalen Schutzmechanismus für kapitalistische Gewinnmaximierung reduziert: Demokratie als politischer Deckmantel für marktradikalen Wirtschaftsliberalismus. Indem eine gesellschaftskritische Theologie und die kirchliche Soziallehre („Diese Wirtschaft tötet“, Papst Franziskus in EG 53) die destruktiven Auswirkungen „marktförmiger Demokratie“ (Angela Merkel) sichtbar machen, wird der auch von Anderen beobachtete Konflikt von Demokratie und Kapitalismus überdeutlich (etwa Wolfgang Streeck in „Gekaufte Zeit“). Wenn Demokratie in vielen Teilen des Globus vor allem mit ausgrenzendem Wettbewerb, entfremdender Konsumkultur und Ressourcenvernichtung verbunden wird, entzieht das dem impliziten Versprechen eines guten Lebens für alle viel an Autorität und Glaubwürdigkeit.

Drittens aber ist es offensichtlich, dass vor allem die katholische Kirche das, was sie zur Demokratie nach außen vertritt, in ihrer inneren Verfasstheit weiterhin strukturell dementiert und ablehnt. Wer den Wirtschaftsliberalismus mit guten Gründen kritisiert, aber die an die Menschenwürde gebundenen Freiheitsrechte mit theologisch mehr als umstrittenen Gründen im binnenkirchlichen Bereich verweigert, hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Und in Zeiten digitaler Echtzeit-Öffentlichkeiten sehen und spüren das heute eben viele Menschen. Es wird immer schwieriger, eine feudal-ständische Ämterstruktur oder die faktische Abwertung von Vielfalt in den Lebensformen als besonderes Profil der eigenen Religionsgemeinschaft zu plausibilisieren. Wie Rainer Bucher treffend schreibt, rächt es sich, „dass man innerkirchlich immer noch nicht akzeptiert hat, dass Demokratie eine Herrschaftsform ist, die Entscheidungen ermöglicht und in der Partizipation kein Zugeständnis der Herrscher darstellt, sondern die Struktur der Herrschaft ausmacht und in der es selbstverständlich Grundsätze geben kann, ja muss, die der Mehrheitsentscheidung entzogen sind.“4 In der Bundesrepublik wären das die ersten 20 Artikel im Grundgesetz mit den Grundrechten und dem ausgeklügelten System von „Checks and Balances“, weshalb Jürgen Habermas bekanntlich zum Verfassungspatriotismus aufruft.

Genau diese Errungenschaft, dass in rechtsstaatlichen Demokratien grundlegende (Minderheiten) Rechte und gegenseitige Kontrollstrukturen nicht einfach abgewählt werden können, steht heute unter dem Druck populistischer Bewegungen und Parteien. Doch was ist damit gemeint?

Das Populäre, das Populare und das Populistische


Im Blick auf Kirche und Gesellschaft kann es hilfreich sein zumindest drei Formen des „Pop“ zu unterscheiden: das Populäre, das Populare und das Populistische. Populär klingt heute ein wenig nach den 1980er Jahren, meint aber soviel wie „up-to-date“ und auf der Höhe der Zeit zu sein. Im Kirchenjargon aus der Nachkonzilszeit hieß das Aggiornamento. Dass etwas populär ist, das heißt, dass es viele Menschen anspricht und sie dem zustimmen. Damit das gelingt, empfahl Luther bekanntlich „dem Volk aufs Maul zu schauen“. Gerade die Kirchenentwickler*innen in den beiden Großkirchen versuchen mit viel Aufwand ihre Organisationen wieder populär, also auf pluralere Weise volksnah zu machen. Wie Matthias Sellmann auf streitbare Weise zugespitzt schreibt, soll Kirche nicht mehr mit den schwarzen Nylonkniestrümpfen der Oma verbunden werden, sondern mit der Attraktivität von seideumspielten Topmodel-Beinen: „Humpeln war gestern“5 – Heute ist SilentMod im Kölner Dom!? Ein Ausrufezeichen für das notwendig populäre Aggiornamento und ein Fragezeichen für das mögliche Missverständnis, Kirchenentwicklung bedeute krankes Altes gegen frisches Neues auszutauschen, wo es jeweils heißen müsste: nicht ohne das je Andere.

Lässt man die diakritischen Pünktchen über dem „a“ einmal weg, dann ergibt das einen theologischen Zentralbegriff aus den Ländern des Südens: die Populare Theologie einer Kirche des Volkes. Gerade vom lateinamerikanischen Kontext her bedeutet „popular“ den Kontrast zu einer kleinen, herrschenden Elite, ob in der Gesellschaft oder in der Kirche. Popular, das sind all jene „einfachen Leute“, die über wenig finanzielles, kulturelles und soziales Kapital verfügen. Die Befreiungstheologie versteht sich wesentlich als solch eine populare Theologie des Volkes. Clodovis Boff spricht von den Wurzeln der Theologie, „wenn ein Hirte (ein Priester oder ein Bischof) und ein Theologe in einem gemeindlichen Zentrum mitten unter dem Volk sitzen und mit den Leuten ihren Kampf und ihren Weg bedenken“6. Auch wenn dieses immer etwas paternalistische Pathos der geschwisterlichen Egalität heute leicht angestaubt wirkt: Gegenwärtig entdecken die Bibelwissenschaften neue, quasi populare „Alltagsexegesen“ (Sonja A. Strube), und Christian Bauer spricht von einer zu entwickelnden „Leutetheologie“, denn die „Stimme einer Pfarrgemeinderätin zählt in diesem wissenschaftlichen Zusammenhang genausoviel wie die des Hl. Augustinus“7.

Wo verläuft aber dann die Grenze zum Populismus? Und wo liegt das Problem? In den USA und Lateinamerika ist Populismus ein emanzipatorischer Begriff und meint „gerade eine Graswurzel-Bewegung für mehr Demokratie oder zumindest eine erzdemoraktische Verteidigung der Interessen der ‚Main Street‘ gegen jene der ‚Wall Street‘“8. In Europa dagegen geht es heute um den Zulauf zu rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien. Gibt es also einen demokratischen und einen antidemokratischen Populismus? Jan-Werner Müller hat ein paar einfache, aber aufschlussreiche Unterscheidungsvorschläge gemacht, um das Feld zu sortieren. Populismus und Demokratie haben zunächst einiges gemeinsam: In beiden steckt der Bezug auf das Volk, nur einmal auf Latein und einmal in Griechisch. Wie dieser Bezug aber konzeptionell gedacht ist, das ist sehr verschieden.

Populismus verbindet in sich immer zwei Komponenten, so Müller. Die erste ist die egalitäre Kritik an bisherigen Eliten, welche sprach- und machtlosen „Leuten“ Geltung verschaffen will. Insofern wären auch zivilgesellschaftliche Akteure, parteiliche Wahlprogramme und Luthers seelsorgliche Empfehlungen populistisch, indem sie alle versuchen, ‚dem Volk aufs Maul zu schauen‘. Das allein reicht also nicht. „Alle Populisten sind gegen das ‚Establishment‘ – aber nicht jeder, der Eliten kritisiert, ist ein Populist.“9 Es kommt ein zweites Moment dazu, und das ist antipluralistisch. Wenn aus der demokratischen Forderung „Auch wir sind das Volk“ die Parole wird „Wir, und nur wir, sind das wahre Volk“, dann wird es populistisch. Populismus ist mit Müller also antielitär und insofern demokratisch, zugleich aber antipluralistisch und damit undemokratisch. Denn Demokratie gibt es nur in prinzipiell gleichberechtigter Vielfalt, in der sich die Herrschaft durch ein System von „Checks and Balances“ auf mehrere Orte verteilt. Populisten dagegen gehen von einem moralischen Alleinvertretungsanspruch aus, der alle Andersdenkenden ausschließt. „Diese Logik des eindeutigen Auftrags (mit den Bürgern als vermeintlichen Auftraggebern, die unzweideutige Anweisungen kommunizieren) erklärt die letztlich ambivalente Rolle, welche das Volk bei den Populisten spielt: an der Oberfläche äußerst aktiv, letztlich jedoch völlig passiv.“10

Die Zukunft der Demokratie läuft damit auf die Frage zu, welche Ressourcen eine Gesellschaft hat, mit Mehrdeutigkeiten und Vielfalt so umzugehen, dass die Existenz des und der Anderen grundsätzlich gewollt ist.

Demokratie theologisch denken mit Michel de Certeau

Tradition ist die Demokratie der Toten, sagt Gilbert Keith Chesterton. In der katholischen Tradition scheint allerdings die Demokratie eher selbst zu diesen Toten zu gehören. Man muss schon genau hinschauen, um ein theologisches Denken zu finden, das den demokratischen Formen von Pluralismus und verteilter Macht wirklich gewachsen ist. Der französische Jesuit Michel de Certeau (1925–1986) kann hier als eine echte Entdeckung gelten. Anerkennung von Diversität und eine demokratische Verteilung von Macht, so seine These, das sei der christlichen Offenbarung nicht fremd, es ist ihre genuine Grammatik. Nach Certeau gehört es zur paradoxen Identität der christlichen Offenbarung, dass wir keinen eindeutigen Zugriff auf das Ursprungs-Ereignis haben. Das Grab ist leer, und auf dem Weg nach Emmaus ist Jesus in dem Moment verschwunden, in dem er identifiziert werden könnte. Die Jünger müssen sich ihren eigenen Reim darauf machen, ihre eigene Theologie und Lebenspraxis entwerfen. „Das Ereignis faltet sich aus (es verifiziert sich) im Modus des Verschwindens in den Differenzen, die es möglich macht. […] In allen ihren Gestalten hat diese Beziehung des ‚Anfangs‘ zu seiner ‚Verifikation‘ keine andere als eine plurale Form.“11 Umgekehrt heißt das: „Die Zeugen sprechen nicht mehr von Gott, wenn sie auf den Singular zurückgenommen werden und wenn sie seinen Platz einnehmen. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Plural der Autoritäten notwendig, sobald sie eine Beziehung zu Gott zu bekunden trachten.“12

Das heißt: Wenn es um die Treue zum christlichen Ursprung geht, ist die Testfrage nicht die nach der sichtbaren Einheit, sondern viel entscheidender die nach der notwendigen Vielfalt an Orten und Praxisformen. Jetzt erscheint es umgekehrt als gefährlich, wenn die Wahrheit des Evangeliums auf ein „Einheitsprinzip“ zurückgeführt wird. Denn das christliche Einheitsprinzip Gottes liegt in einer unhintergehbaren Vielfalt der Zeugnisse. Das Zulassen, ja das Suchen von Vielfalt, von Opposition und der je Anderen Entdeckungsweise des Evangeliums wird selbst zum Kriterium dafür, welcher Autorität man glauben und vertrauen kann: dekliniert sie sich im Singular oder im Plural? Von Certeau wird der Singular und „der Stillstand als Widerspruch zum ‚katholischen‘ Glauben abgeurteilt. Der Häretiker ist, genau genommen, nicht derjenige, der ‚auswählt‘ (da der Glaube gelebt wird und ein Engagement impliziert, ist er Beleg für eine ‚Wahl‘, ist er partikulär), sondern derjenige, der andere Rekurse ‚untersagt‘, … der jede andere Autorität als die seine für einen bedeutungslosen Rest hält … Der Häretiker bricht die Kommunikation ab.“13 Die entscheidende Wendung bei Certeau lautet: Für christliche Praktiken geht es „nicht ohne“14 die jeweils Anderen, nicht ohne den Nächsten, nicht ohne die Gegner, nicht ohne Opposition. Es geht nicht ohne Diversität, und damit sind wir mitten in der Gegenwart. Denn „nicht ohne“ heißt auch nicht ohne jene, die Vielfalt selbst als Bedrohung erleben, also hierzulande nicht ohne AfD oder Pegida.

Die Perspektive demokratischer Diversität ist also alles andere als selbstverständlich. Sie steht im Wind der Ängste um Identitäts- und Heimatverlust. Diese Verlustängste sind als Wirklichkeiten einer Abstiegsgesellschaft (Oliver Nachtwey) ernst zu nehmen, vor allem, wenn Menschen Erfahrungen machen, die sie in ihrem Gefühl bestätigen, auf der Rolltreppe nach unten zu stehen. Zugleich wird aber genau das heute von neurechten Akteuren populistisch erfolgreich instrumentalisiert und im Sinne homogener Einheitssehnsüchte ausgebeutet. Dieser Diskurs bezieht sich auch auf eine katholische Tradition. Carl Schmitt war ein katholischer Staatsrechtler, Kritiker der Weimarer Demokratie und Wegbereiter der Nazidiktatur. Heute gilt Schmitt als einer der Stichwortgeber der Neuen Rechten. 1923 schrieb er: „Zur Demokratie gehört notwendig erstens Homogenität und zweitens nötigenfalls die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen. Die politische Kraft einer Demokratie zeigt sich darin, dass sie das Fremde und Ungleiche, die Homogenität Bedrohende zu beseitigen oder fernzuhalten weiß.“15 Der gegenwärtig an vielen Orten aufkommende Rechtspopulismus knüpft an dieses Denken an. Die identitäre Version von Vielfalt heißt heute „Ethnopluralismus“ (Alain de Benoist) und meint das Konzept säuberlich getrennter Homogenitäten. Dessen Motto lautet: Es darf ja Afrikaner, Muslime oder Homosexuelle geben, aber nicht in unserer Kultur, nicht da, wo wir leben. Armin Nassehi schreibt: „Man kann dieses Denken … der sogenannten ‚identitären Bewegung‘ … als ein Lob der Vielfalt lesen, und zwar in dem Sinne, dass man Vielfalt insofern gutheißt, als es durchaus unterschiedliche Kulturen und Lebensformen geben darf – aber eben nicht vermischt und innerhalb eines Raumes, sondern nebeneinander. … Die … rechte, die identitäre Toleranz ist eine Toleranz der Partikularismen untereinander, die unterschiedliche Behälter nebeneinander gutheißt, aber mit möglichst wenig Grenzverkehr. Man kann dann Fremdenfeindlichkeit als Toleranz ausgeben und das Recht an den Boden binden.“16

Während Schmitt und die Neue Rechte die Demokratie an die ausgrenzende Identität einer Einheit binden, die alles andere nicht nötig hat und bekämpft, besteht für Certeau die demokratische Struktur des Christentums darin, gerade „nicht ohne“ die jeweils Anderen existieren zu können. Die größte Gefahr lauert dort, wo sich eine Führungsrolle selbst mit dem Ganzen identifiziert: Ich bin das Volk! Plötzlich hängt die Zukunft eines sozialen Zusammenhangs nicht mehr von der Kreativität der Vielen ab, sondern vom Überleben der Partei oder des einen starken Mannes oder der einen starken Frau. Certeau hat diese Versuchung gruppenidentitärer Autoritarismen treffend beschrieben. „Dieser Ambition, zu überleben zum Nachteil der anderen, dieser Angst, überhaupt nicht mehr zu sein, wenn man nicht alles ist, setzt eine demokratische Struktur eine doppelte Institution entgegen: die Aufteilung der Autoritäten oder die Gewaltenteilung und andererseits … die Notwendigkeit einer Opposition.“17

Das markiert heute einen zukunftsentscheidenden Konflikt. Die aktuelle Renaissance autoritärer Demokratien legitimiert sich stets mit dem Argument, man müsse im Namen des Volkes und um seiner Einheit und Stärke willen die störende Vielfalt in Medien, Staat und Gesellschaft begrenzen oder gleich abschaffen. Kurz und in Umkehrung von Certeau: Ohne die jeweils Anderen werde alles besser. Deshalb liegt im „nicht ohne“ heute politische Sprengkraft.

Certeau erinnert aber daran, dass Demokratie dann nichts mehr wert ist, wenn sie die Verteilung und zeitliche Begrenzung von Macht aufgibt. Und Verteilung von Macht, so das republikanische Modell, das heißt, dass alle Macht nirgends auf nur einen Punkt zentriert ist. Die formale Denkfigur vom entzogenen Ursprung aus Certeaus Theologie erhält hier eine politische Zuspitzung. Vielfalt ist die offene Ordnungsfigur demokratischer Zivilgesellschaften.

Damit entzaubert Certau zugleich ein beliebtes Argument für die Unvereinbarkeit von Kirche und Demokratie: Über die Wahrheit könne man nicht abstimmen. Zum einen ist der dahinterliegende essentialistischen Wahrheitsbegriffs nicht unumstritten. Und zum anderen arbeitet diese Aussage mit einem verkürzten, nämlich inhaltlich entleerten Demokratiebegriff. Demokratie ist heute mehr als die Demoskopie permanenter Mehrheitsentscheidungen über anstehende Fragen. Mehrheitsentscheide in Wahlperioden sind zwar konstitutiver Teil des demokratischen Settings. Aber dazu gehört genauso das kluge Institutionengefüge der „Checks and Balances“, der gegenseitigen Relativierung mehrerer Machtzentren und der Minderheitenschutz. Ebenso wichtig wie freie Wahlen ist eine funktionierende Gewaltenteilung als Garant von Vielfalt, sind grundlegende Menschen- und Freiheitsrechte, über die nicht ohne Weiteres mit einfacher Mehrheit abgestimmt werden kann. So wie übrigens in der christlichen Tradition über die „Vorgabe“ von Schrift und Tradition.

Certeau hatte bereits Mitte des 20. Jahrhunderts angemahnt, dass Christentum und pluralistische Demokratie keine Gegensätze mehr sein dürften, weil sie es historisch vielleicht lange waren, prinzipiell aber überhaupt nicht sind. Dem christlichen Glauben ist eine alteritätssensible Diversity-Perspektive mit entsprechender Selbstverpflichtung eingeschrieben, die mit Vielfalt immer auch das Fremde, Langsame, Kranke oder scheinbar Unpassende von Menschen als prinzipiell gleichberechtigt und potenziell höchstrelevant mitdenkt. Dafür einzustehen und Zeugnis zu geben, so kann man auch bei Ottmar Fuchs in diesem Heft nachlesen, das wäre eine Herausforderung, die traditionelle Konfessions- und sogar Religionsgrenzen überschreitet und verblassen lässt.



1 | Elisabeth Wehling, Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht. Köln 2016,45.
2 | Fritz Breithaupt/Martin Kolmar, Fakten oder Faketen? Eine Geschichte postfaktischer Autoritäten, in: Kursbuch 189 (März 2017), 68-80, 68.
3 | Markus Wriedt, Luthers Verhältnis zu Demokratie und individueller Freiheit, in: Luther 85 (2014), H. 3, 149-163, 155.
4 | Rainer Bucher, Menschenrechte in der Katholischen Kirche. Eine pastoraltheologische Perspektive, in: JCSW 55 (2014), 199-212, 207.
5 | Matthias Sellmann, Humpeln war gestern, in: Herder Korrespondenz 69 (2015), 573-576.
6 | Clodovis Boff, Wissenschaftstheorie und Methode der Theologie der Befreiung, in Ellacuria, Ignacio/Sobrino, Jon, Mysterium Liberationis. Grundbegriffe der Theologie der Befreiung, Bd. 1, Luzern 1995, 63-97,77.
7 | Christian Bauer, Konstellative Pastoraltheologie. Erkundungen zwischen Diskursarchiven und Praxisfeldern, Stuttgart 2017, 85.
8 | Jan-Werner Müller, Was ist Populismus? Ein Essay, Berlin 2016, 28.
9 | Ebd., 19.
10 | Ebd., 46.
11 | Michel de Certeau, GlaubensSchwachheit. Herausgegeben von Luce Giard, Stuttgart 2009, 177.
12 | Ebd., 106.
13 | Ebd., 112.
14 | Ebd., 103 f.
15 | Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin 1969/4, 13 f.
16 | Armin Nassehi, Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss, Hamburg 2015, 31.
17 | Certeau, Glaubensschwachheit, 113.

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