archivierte Ausgabe 3/2016 |
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Leseprobe 3 |
DOI: 10.14623/thq.2016.3.276-283 |
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Hans Reinhard Seeliger |
Bruchlandung – Der „Bologna-Prozess“ vor dem Verfassungsgericht und seine Bedeutung für das Theologiestudium |
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Am 17. Februar 2016 verkündete das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe nach über fünfjähriger Verfahrensdauer einen Beschluss zum Akkreditierungsverfahren von Studiengängen an deutschen Hochschulen1 und damit zum wesentlichen Element, mittels dessen der sog. Bologna-Prozess zur internationalen Vereinheitlichung der Studienstrukturen durchgesetzt wurde. Der zur Entscheidung anstehende Fall betraf die Rechtslage in Nordrhein-Westfalen, mutatis mutandis aber die in allen Bundesländern. Bei rechtem Licht besehen, ist das Urteil ein Donnerschlag. Doch er verhallte in der öffentlichen Wahrnehmung bislang fast ungehört, sieht man vom „Heidelberger Aufruf gegen die Akkreditierung“ ab, den eine Reihe Professoren und Professorinnen im Anschluss verfassten.2
Das Verfassungsgericht stellte in seinem an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassenden Urteil nichts anderes fest, als dass „die geltenden Regelungen“, nach denen landauf landab akkreditiert wird, nicht verfassungskonform sind (Rn. 69). Wiederholt wird gesagt, das Akkreditierungssystem sei „mit schwerwiegenden Eingriffen in die Wissenschaftsfreiheit verbunden“ (Rn. 46, 50, 52) und dazu brauche es gegebenenfalls Gesetze (die dann wiederum in Karlsruhe überprüfbar sind). Es fehlten „gesetzliche Regelungen zur Verfahrenseinleitung, zum Verfahren der Akkreditierung, zur Rechtsform der Entscheidungen der Agenturen und des Akkreditierungsrates der Akkreditierungsstiftung, zu den Folgen bei fehlender Umsetzung von Auflagen der Agenturen sowie zum zeitlichen Abstand der Reakkreditierung“ (Rn. 72) – also quasi zu allem. Insbesondere fehle es im Verfahren an einer „angemessenen Beteiligung der Wissenschaft“ selbst (Rn. 60).
Beim Akkreditierungsverfahren handele es sich „um eine präventive Vollkontrolle“ (Rn. 54); die damit verbundenen Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit vermöge „die mit dem ‚Bologna-Prozess‘ unternommene Europäisierung des Hochschulraums als solche (…) nicht (zu) rechtfertigen“ (Rn. 56f). Die Akkreditierung „beschränkt die Freiheit der Hochschule, über Inhalt, Ablauf und methodischen Ansatz des Studiengangs und der Lehrveranstaltungen zu bestimmen“, und ist insofern „ein Eingriff in die Rechte der Lehrenden und Fakultäten“, da „ihr Gegenstand die externe Bewertung der Studiengänge mit ihrem inhaltlichen, pädagogischen und didaktischen Konzept und der Kompetenz der Lehrenden“ ist. „Überprüft wird das Studiengangskonzept (…) und die Studienorganisation (…), die prozentuale Zusammensetzung der Curricula und die Benennung von Studienschwerpunkten und Modulen sowie die Studien- und Prüfungsordnungen. Damit sind die Verantwortungsbereiche der Fakultäten berührt; sie können im System der Akkreditierung nicht mehr frei entscheiden, welche Inhalte in welchem Umfang in welchen Formen innerhalb eines Fachs vermittelt und geprüft werden“ (Rn. 52).
Im Grundsatz stößt eine externe Akkreditierungspflicht nach Ansicht des BVerfG nicht auf verfassungsrechtliche Bedenken, doch muss sie durch die Hochschulgesetze eindeutig und grundgesetzkonform unter Beachtung der Freiheit der Wissenschaft geregelt sein. Entsprechend dem Tenor der Entscheidung darf der Gesetzgeber dabei „wesentliche Entscheidungen zur Akkreditierung (…) nicht weitgehend anderen Akteuren überlassen, sondern muss sie unter Beachtung der Eigenrationalität der Wissenschaft selbst treffen“. Entsprechende gesetzliche Regelungen sind länderübergreifend längstens bis zum 31. Dezember 2017 zu schaffen (Rn. 88). Bis dahin gilt die bisherige „verfassungswidrige Regelung“ fort (Rn. 84).
Das Urteil hat Insider nicht überrascht. Bereits das Verwaltungsgericht Arnsberg, das das bei ihm anhängige Verfahren ausgesetzt und das Verfassungsgericht angerufen hatte, um eine Grundsatzentscheidung zu erwirken, hatte die Auffassung vertreten, dass das Akkreditierungsverfahren nicht grundgesetzkonform sei3, und selbst die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) hatte sich in dem von den Karlsruher Richtern durchgeführten Anhörungsverfahren entsprechend geäußert4. Auch in der staatskirchenrechtlichen Literatur zur Akkreditierung theologischer Studiengänge gab es früh eindeutige Hinweise in dieser Richtung.5
Entscheidend am Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist die Feststellung, dass die „geltenden Regelungen“, nach denen akkreditiert wird und die das Gericht als „Blankettverweis“ wertet (Rn. 69), nicht grundgesetzkonform sind – weder inhaltlich noch formalrechtlich. Gemeint sind damit all die „Strukturvorgaben“, „Eckpunkte“, „Thesen“, „Empfehlungen“, „Rahmenvorgaben“, „Entschließungen“ und „Leitlinien“ der Kultusministerkonferenz (KMK), der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung, des Wissenschafts- sowie Akkreditierungsrates und der HRK, mittels deren der „Bologna-Prozess“ durchgesetzt wurde.6 Im Falle der Theologie betrifft dies auch die „Eckpunkte für die Studienstruktur in Studiengängen mit Katholischer und Evangelischer Theologie/Religion“, welche die KMK 2007 beschloss.7 All diese Papiere sind Makulatur, weil sie der Erfordernis hinreichender gesetzlicher Bestimmtheit nicht genügen. Haben die in den Landesregierungen tätigen Ministerialen eigentlich nicht gewusst, dass sie all die „Eckpunkte“ und „Rahmenvorgaben“ der KMK in ihren jeweiligen Ländern hätten umsetzen müssen in Gesetze und Verordnungen?
Die Karlsruher Richter sagen nun bei genauer Betrachtung nichts anderes, als dass der „Bologna-Prozess“ sich bislang in einem rechtsfreien, zumindest rechtlich nicht hinreichend bestimmten Raum abspielte. Und wie es immer so ist, in einem solchen Raum tummeln sich dann viele: neben den genannten Institutionen die Fakultätentage, Studienkommissionen, Studiendekane, Fakultätsräte, Senate und Universitätsverwaltungen mit ihren Rechtsabteilungen und den Abteilungen für Studiengangsplanungen und schließlich die Bischöflichen Ordinariate mit ihrem Zustimmungsrecht. Sie alle interpretierten in der Vergangenheit – mitunter nolens volens, mitunter aber mit Lust – munter die „geltenden Regelungen“, die das Verfassungsgericht jetzt verwarf, und kamen dabei nicht selten zu sehr unterschiedlichen bzw. auch eigenwilligen Ansichten. Dabei war auch die Neigung zu beobachten, „Handreichungen“ zu publizieren, die de facto eher Dekretcharakter trugen; Ideen von „Studiengangsplanern“ in den Universitätsverwaltungen fanden nicht selten so Eingang in die Modulhandbücher. Studienkommissionen, in denen die Studierenden und Mittelbauvertreter zusammen über die Mehrheit der Stimmen verfügten und Modulhandbücher und Prüfungsordnungen verabschieden konnten, dürften sich nun mit dem Karlsruher Urteil nicht länger vertragen; das Urteil betont immer wieder den Vorrang der Wissenschaft und damit der Professorenschaft, ähnlich wie bei Berufungsverfahren.
Wunderlich beim Ganzen ist auch, dass überall an den Hochschulen der „Bologna-Prozess“ vollzogen wurde, obwohl die HRK seine Grundlagen in ihrer Stellungnahme für das BVerfG bereits 2010 als verfassungswidrig eingestuft hatte. Die Hochschulrektoren, bislang ja überwiegend Beamte, hätten als solche in der Folge eigentlich gegenüber ihren Ministern remonstrieren müssen und alles weitere nur auf deren ausdrückliche Weisung vollziehen dürfen. Kein entsprechender Fall wurde bekannt.
Auch dass der Vatikan sich seinerzeit auf Verhandlungen mit der KMK einließ, aus denen dann die eigentlich immer unverbindlichen „Eckpunkte“ zur Studienstruktur theologischer Studiengänge hervorgingen, muss erstaunen. Die KMK, die sie beschloss, ist kein Rechtssubjekt, das staatskirchenrechtlich verbindlich handeln kann. Mit jedem einzelnen Bundesland hätte die Apostolische Nuntiatur Vereinbarungen über Bolognakonforme theologische Studiengänge und ihre Akkreditierung erzielen müssen; unter vier Augen haben mir das Mitarbeiter des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz auch zugegeben. Das aber steht nun an, falls es überhaupt beim System der externen Akkreditierung bleibt – was nach dem Verfassungsgericht möglich, aber nicht zwingend ist – und damit bei der Zuständigkeit der „Agentur für Qualitätssicherung und Akkreditierung kanonischer Studiengänge“ (AKAST) für die theologischen Fakultäten. Man darf gespannt sein, wie dies Problem gelöst werden wird. Eine Vereinbarung, die gleichermaßen sowohl für die evangelischen wie katholischen theologischen Studiengänge gilt, ist jedenfalls inzwischen wohl nicht mehr denkbar. In der evangelischen Theologie wurde die Bologna-Reform nur ganz rudimentär umgesetzt. Und für die AKAST gilt zudem, dass ihre Rechtsstellung genauso wie die aller anderen Agenturen „unklar“ ist (Rn. 71).
In jedem Fall wird deshalb die Diskussion um den „Bologna-Prozess“ in der Theologie neu beginnen müssen. Es ergeben sich dabei Chancen, weil zum einen durch die lange Dauer des Verfahrens vor dem BVerfG Zeit ins Land gegangen ist. Unterdessen wird die Bologna-Reform längst nicht mehr so positiv beurteilt wie noch vor einigen Jahren; eher ist das Gegenteil der Fall.8 Zum andern ergibt sich für die Theologie die Situation, dass die vatikanische Klerus-Kongregation inzwischen an neuen Leitlinien für die Priesterausbildung arbeitet, welche die bisherige Ordnung („Ratio fundamentalis“ von 1985) ersetzen sollen. Im Zusammenhang damit dürfte wohl auch ein neues Akkomodationsdekret für die deutschen Verhältnisse nötig sein; schon nach der Einführung der Bolognareform hielten dies manche für notwendig.9 Bis es soweit ist, wird einige Zeit vergehen, sodass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Zwischenschritte fällig werden. Zu vermuten ist aber auch, dass der staatliche Gesetzgeber länger brauchen wird als die ihm vom BVerfG eingeräumte Frist zum Ende nächsten Jahres.
Für die anstehende Diskussion möchte ich aus der Erfahrung einer vierzigjährigen akademischen Lehrtätigkeit und der Beschäftigung mit der Bologna-Reform seit den ersten Beratungen auf dem Katholisch-theologischen Fakultätentag (2004) einige Anregungen geben und Desiderate benennen:
- Als der Fakultätentag seinerzeit die Beschlüsse zur Modularisierung des theologischen Vollstudiums verabschiedete, wurden als Grundlage für die Aufteilung des Studiums nach Leistungspunkten entsprechend dem European credit transfer system (ECTS) die bisherigen Anteile der theologischen Fächer an der Semesterstundenzahl des Studiums genommen und diese in Leistungspunkte umgerechnet. Auf deren Basis wurden die Module gebildet und errechnet. Dieser Ansatz vernachlässigte allerdings, dass ein modularisiertes Studiensystem von der Beschreibung der im Studium zu erwerbenden Kompetenzen her aufzubauen ist. Dies ist bis heute nicht einheitlich erfolgt; jede Fakultät hat ein eigenes Kompetenzenraster entwickelt. Eine einheitliche Konzeption steht aus.
- Dies steht unter der Voraussetzung, dass es bei dem Ansatz bleibt, den Aufbau des Studiums und der Module von den Kompetenzen her zu strukturieren. Beachtung verdient hier, dass im Urteil des Verfassungsgerichtes festgehalten wird, dass zwar „in der wissenschaftlichen Lehre (…) der Aufgabe der Berufsausbildung und den damit verbundenen Grundrechtspositionen der Studierenden Rechnung zu tragen“ ist (Rn. 58), aber im Urteil das Wort „Kompetenz“ nirgends vorkommt; es ist stets von den „Inhalten“ und dem „methodischen Ansatz“ von Lehrveranstaltungen die Rede (Rn. 49, 52), von ihrem „inhaltlichen Konzept“ (Rn. 52), von den „Lehrinhalten“ (zu denen der Gesetzgeber nicht selbst Vorgaben machen kann: Rn. 60) und vom „Fachwissen“ (Rn 55). Dass die Module von Kompetenzen her zu konzipieren seien, ist bislang Teil der „geltenden Regelungen“, die das Verfassungsgericht als unzureichend kritisiert hat. Man wird abwarten müssen, ob und wie sich solch didaktische Vorstellungen in den von den Bundesländern zu erlassenden Vorschriften finden werden. Möglich erscheint aber auch, ein solches Konzept in bischöflichen Rahmenrichtlinien für das Theologiestudium zu normieren.
- Wichtig zu diskutieren ist zuvor allerdings der Zusammenhang von Kompetenzen und inhaltlichem Wissen. Beides wird oft zu Lasten des fachlichen Wissens gegeneinander ausgespielt. Es gilt – um Beispiele aus anderen Fächern zu anzuführen – gewiss, dass ein guter Operateur auch völlig vertraut sein muss mit medizinischer Terminologie, die man lernen muss, und ein Anwalt nicht nur in der Lage sein sollte, ein Rechtsproblem zu lösen: Er muss auch die Paragrafen kennen. Ein Ausgleich zwischen den Interessen der Studierenden an ihrer Berufsausbildung (berufliche Kompetenzen) und denen der Lehrenden an ihren fachlichen Bezügen (fachliche Kompetenzen) ist dringend erforderlich.10
- Beides muss ineinander greifen. Bei der Diskussion darum sollten vor allem die theologischen Fachkonferenzen gefragt werden, die seinerzeit im Beratungsverfahren des Fakultätentags 2004/05 nicht ausreichend beteiligt wurden.
- Bei der Definition der Kompetenzen und der Frage ihres Erwerbs sollte bedacht werden, dass man nicht einfach Erkenntnisse aus der Schulpädagogik auf die Hochschule übertragen kann. Pädagogik ist nicht Andragogik; die Hochschulen haben es mit erwachsenen Menschen zu tun. Dies gilt für die spezielle Hochschuldidaktik, aber auch für die Prüfungsformen.
- Es ist eine Binsenweisheit, dass die Aneignung des Stoffes im vertiefenden Eigenstudium in der Form erfolgt, in der geprüft wird. Mithin müssen die Prüfungsformen sehr genau geplant werden. Sie müssen Erwachsenen angemessen sein und zugleich den je spezifischen fachlichen Erfordernissen und Kompetenzen, die zu erwerben sind. Es gilt dabei, was der frühere Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Hubert Markl (1938–2015), sagte: „Es ist für Lehrende anstrengend, dafür zu sorgen, dass sich die Lernenden anstrengen: Aber so soll es auch sein.“11
- Allerdings hat bekanntlich die Prüfungslast in den modularisierten Studiengängen für die Studierenden wie die Lehrenden enorm zugenommen, was die Anstrengungen auf beiden Seiten eher behindert als fördert. In der Theologie besteht die Möglichkeit – nicht minder aber auch die Notwendigkeit –, über die bischöflichen Rahmenrichtlinien zu einem einheitlichen Prüfungssystem zu kommen, wenn darin vorgegeben wird, in welchen Fächern und in welcher Form eine Prüfungsleistung zu erbringen ist. Der ausgeuferten Unübersichtlichkeit des Prüfungssystems wird man nur so begegnen können.
- Wenn es (was zu vermuten ist) bei der Aufteilung des Studiums nach Leistungspunkten bleibt, muss definiert werden, auf welches Leistungsniveau sie sich beziehen. Das hat mir, trotz hartnäckigen Nachfragens, bislang niemand beantworten können: Kalkuliert man da die Leistungsfähigkeit schwacher, mittelmäßiger oder sehr guter Studierender, solcher mit langsamem, durchschnittlichem oder schnellem Lesetempo, oder muss man gar die in Rechnung stellen, die alles zweimal lesen müssen? Es gibt durchaus Auseinandersetzungen mit den Studierenden über diese Frage. Das Beste wäre es m. E. indes, die kleinliche Kalkulation nach „Kontaktstunden“ (für die rein zeitliche Anwesenheit in den Lehrveranstaltungen) und den immer fiktiv bleibenden Arbeitsstunden für das „Selbststudium“ (mit diesem exercitium ist nicht gemeint, dass man sich selbst studiert, was ja auch nicht übel wäre) aufzugeben und die Leistungspunkte nur noch als solche zu verstehen, welche den Anteil der jeweiligen Lehrveranstaltung bzw. des Moduls am Gesamtstudium definieren. Andere europäische Länder machen es genau so.
- Gemäß den Beschlüssen des Fakultätentags von 2005, die in die entsprechenden Rahmenrichtlinien der Bischofskonferenz Eingang fanden, gliedert sich das Vollstudium der Theologie in eine Grundlegungs-, Aufbau- und Vertiefungsphase. Die Aufbauphase umfasst das 3. bis 6. Semester und ist gekennzeichnet durch interdisziplinäre Module. Dass es solche Module geben müsse, ist bislang ebenfalls Teil der „geltenden Regelungen“, die das Verfassungsgericht als rechtlich unzureichend kritisiert hat. Interdisziplinäre Lehrveranstaltungen sind keinesfalls unsinnig; ihre Art, ihr Zuschnitt, ihre Zahl und vor allem ihr zeitlicher Ansatz im Studium sind jedoch neu zu bedenken, denn der jetzige Studienaufbau ist m. E. teilweise widersinnig. Nach zwei Semestern Grundlegung sind die Studierenden nach meiner Beobachtung mit wirklich interdisziplinären Lehrveranstaltungen noch überfordert. Solche Lehrveranstaltungen, insbesondere Kolloquien, mit denen ich durchaus gute Erfahrungen gemacht habe, sind sehr viel fruchtbarer in der Vertiefungsphase durchzuführen; erst wenn Wissen und Fähigkeiten umfänglicher sind, kann man üben, die Dinge zusammenzufügen. Im jetzigen Modell ist die Vertiefungsphase zum Schluss des Studiums aber wieder rein fachlich ausgerichtet. Das bedarf der Korrektur.
Bei all dem hoffe ich, dass Berücksichtigung findet, was Max Horkheimer (1895–1973) in einem Vortrag vor der Hochschulrektorenkonferenz schon im Jahre 1952 sarkastisch beklagte: „Wir sind genötigt, den akademischen Unterricht selbst in stets höherem Maße zu ‚verwalten‘ und damit die Verwaltung des Menschen zu verstärken. Wie ein Spinnennetz überzieht das administrative Wesen oder Unwesen den Unterricht und läßt dem Element der geistigen Freiheit, der souveränen Bewegung des Gedankens, dem die deutschen Universitäten vor hundertfünfzig Jahren ihren großen geschichtlichen Augenblick verdankten, keinen Raum mehr. […] (N)och das Minimum (der) Kenntnisse, verteilt auf sechs Semester, ist von solcher Art, daß es die letzte Minute des Studierenden in Anspruch nimmt. Nicht nur was, sondern auch wie und wann er zu lernen hat, ist (fixiert). […] Menschen, die durch ein derart geregeltes Studium hindurchgegangen sind, ganz auf Mittel ausgerichtet werden, müssen fast stets [eine] positivistisch- pragmatische Gesinnung, wenn nicht geradezu Feindschaft gegen das Denken entwickeln und sich mit dem, was ihnen durch die Verdinglichung des Geistes angetan wird, auch noch identifizieren. […] Gegen die Drohung der institutionell vermittelten Barbarei hilft nicht die Rekonstruktion der Bildung und am allerletzten das fruchtlose Bemühen um sogenannte Synthesen. An der Zeit wäre Erziehung, die ebenso über den Begriff der Bildung positiv hinausgeht wie über die abstrakte Entwicklung technischer Fähigkeiten, die Ansammlung vergegenständlichter Informationen, die heute die Kultur schon weitgehend ersetzt.“12
Wir sind dem, was Horkheimer schon vor mehr als einem halben Jahrhundert kritisch beschrieb, inzwischen mehr als nur ein gutes Stück näher gekommen. Es wäre an der Zeit zu einer Wende bzw. Kehre, freilich nicht rück-, sondern vorwärts. Rekonstruieren lässt sich die alte Universität kleiner Eliten nicht, aber über die Erziehungsziele an der Massenuniversität ist neu nachzudenken – auch in der Theologie! Gewiss: längst hat sich spürbar eine Reformmüdigkeit im Lande breit gemacht. Sie ist verständlich. Aber nach dem Urteil des Verfassungsgerichts ergeben sich nun Notwendigkeiten, die als erneute Möglichkeit begriffen werden sollten, die Dinge besser zu machen, als sie sind.
1 | BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 17ͥ. Februar 2016 – BvL 8/10 – Rn. (͟1-88): https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2016/02/ls20160217_1bvl000810.html (zuletzt eingesehen 8. Juli 2016). 2 | https://www.change.org/p/an-die-wissenschaftsminister-und-die-landtage-aller-bundeslaender-heidelberger-aufruf-gegen-die-akkreditierung-von-studiengaengen?recruiter=543608258&utm_source=share_for_starters&utm_medium=copyLink (zuletzt eingesehen 8. Juli 2016). 3 | VG Arnsberg, Beschluss der 12. Kammer vom 16. April 2010 – 12 K 2689/08. 4 | Die Hochschulrektorenkonferenz machte sich bei ihrer Stellungsnahme das von ihr in Auftrag gegebene Gutachten der Heidelberger Professorin Ute Mager vom 1. September 2010 zu eigen, in dem es heißt: „Infolge des Fehlens von gesetzlichen Zweckvorgaben und ausreichenden Regelungen zur Sicherung eines wissenschaftsadäquaten sowie nach Intensität und Auswand verhältnismäßigen Verfahrens ist das Akkreditierungssystem […] verfassungswidrig.“ 5 | Vgl. die Dissertation von K. Hagemeister, Akkreditierung katholisch-theologischer Studiengänge (Schriftenzum Hochschulrecht ͡), Hamburg 2013, 303-305 6 | Gesammelt in: Bologna-Reader. Texte und Hilfestellungen zur Umsetzung der Ziele des Bologna-Prozesses an deutschen Hochschulen = Beiträge zur Hochschulpolitik 8/2004, 5. Aufl. Bonn 2006; Bologna-Reader II. Neue Texte und Hilfestellungen zur Umsetzung der Ziele des Bologna-Prozesses an deutschen Hochschulen = Beiträge zur Hochschulpolitik 5/2007. 7 | http://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2007/2007_12_13-Eckpunkte-Studienstruktur-Theologie.pdf (zuletzt eingesehen 8. Juli 2016). 8 | Vgl. u. a. P. Kellermann/M. Boni/E. Meyer-Renschhausen (Hg.), Zur Kritik europäischer Hochschulpolitik. Forschung und Lehre unter Kuratel betriebswirtschaftlicher Denkmuster, Wiesbaden 2009; D. Lenzen, Bildung statt Bologna!, Berlin ͟͢͠͞2014; K. Liessmann, Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift, Wien 2014. 9 | Die Bestimmungen der Nrn. 15 und 17 des Akkomodationsdekrets von 1983 sind z. B. hinfällig bzw. durch die Bolognareform ausgehöhlt: vgl. H. Schmitz, Katholische Theologie und Kirchliches Hochschulrecht. Kommentar zu den Akkomodationsdekreten zur Apostolischen Konstitution „Sapientia christiana“ (Arbeitshilfen 100), Bonn 1992, 137; 143. 10 | Instruktive Ausführungen dazu bei J. Wildt, Theologie lehren lernen. Ein Weiterbildungskonzept in Kooperation zwischen Fach- und Hochschuldidaktik, in: M. Scheidler/B. J. Hilberath/J. Wildt (Hg.), Theologie lehren. Hochschuldidaktik und Reform der Theologie (QD 197), Freiburg 2002, 34-42. Verschiedene Ansätze zur allgemeinen theologischen Grundlegung referiert W. Weirer, Qualität und Qualitätsentwicklung theologischer Studiengänge. Evaluierungsprozesse im Kontext kirchlicher und universitärer Anforderungen aus praktisch-theologischer Perspektive (Kommunikative Theologie – interdisziplinär 2), Münster 2004, 100-115; die Studie, die freilich insbesondere Österreich im Blick hat, stellt sich jedoch nirgends explizit der Frage der Rechtmäßigkeit von Evaluierungsprozessen. 11 | B. Seebacher-Brandt u. a. (Hg.), Bildung für das Europa von morgen. Diskussion mit Hubert Markl, Frankfurt a. M. 1997, 41. 12 | M. Horkheimer, Fragen des Hochschulunterrichts, in: Ders., Gegenwärtige Probleme der Universität (Frankfurter Universitätsreden 8), Frankfurt 1953, 34–38.
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