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Leseprobe 1
Monika Scheidler
Katechese mit Migrantenfamilien als Normalfall und Herausforderung

Der Sinus-Migrantenstudie zufolge sind 33 % der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland katholisch. Als Menschen mit Migrationshintergrund (Mh) versteht die Studie, entsprechend der Festlegung des statistischen Bundesamtes, nicht nur Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit (47 % der Gesamtzahl), sondern auch Deutsche, die nach 1950 zugewandert sind (ca. 32 %), sowie Personen mit mindestens einem zugewanderten Elternteil oder einem Elternteil mit ausländischer Staatsangehörigkeit (ca. 21 %). Die im Mikrozensus 2007 für Deutschland ermittelte Zahl von 15,3 Mio. Menschen mit Mh führt zu der Annahme, dass etwa jeder fünfte Katholik in Deutschland zu einer Migrationsfamilie gehört. Bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die katechetische Angebote wahrnehmen und eine familiäre Migrationsgeschichte haben, handelt es sich also nicht um Ausnahmefälle. Vielmehr können Katechetinnen und Katecheten im Normalfall davon ausgehen, dass mindestens jeder fünfte Teilnehmende eine familiäre Wanderungsgeschichte mitbringt. Weil Katholiken mit Mh nicht nur in muttersprachlichen Gemeinden, sondern durchaus auch in deutschsprachigen Gemeinden an der Katechese teilnehmen, sind pastorale Mitarbeiter/ innen bei der Konzeption katechetischer Angebote herausgefordert, auch die Bedürfnisse der Teilnehmenden mit Migrationshintergrund zu berücksichtigen.

Zur Klärung der Frage, wie katechetische Angebote nicht nur einheimischen Familien, sondern auch Migrantenfamilien helfen können, dass ihr Leben in Auseinandersetzung mit dem Zuspruch und Anspruch Gottes gelingt, stellt dieser Beitrag zunächst unterschiedliche Lebenswelten von Familien mit Mh vor. Zweitens wird der Migrations- und Akkulturationsprozess als Familienprojekt thematisiert. Drittens geht es um Eltern-Kind-Beziehungen und Fragen der Transmission von Werten im Prozess der Akkulturation. Viertens kommen neben den unverzichtbaren sozialen Ressourcen im Akkulturationsprozess auch Erfahrungen der Diskriminierung und der weite Weg zur gleichberechtigten Partizipation von Migranten in kirchlichen Gemeinden in den Blick. Abschließend wird nach religionspädagogischen Konsequenzen für die Katechese mit Migrantenfamilien in multikulturellen Ortskirchen gefragt.

1. Lebenswelten von Menschen mit Migrationshintergrund

Mit der Sinus-Migrantenstudie von 2007/08, die für das Bundesministerium für Familie, den Caritasverband, die Malteser und andere Auftraggeber durchgeführt wurde, liegt ein umfassender Einblick in die hochgradig differenzierten Milieus, Lebensstile und Werte von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland vor.

Ein wenig überraschendes Ergebnis der Studie ist, dass ethnische Zugehörigkeit, Religion und Migrationshintergrund wichtige Faktoren der Lebenswelt von Migrantinnen und Migranten sind. Außerdem macht die Studie deutlich, dass Migranten verschiedenkultureller Herkunft gemeinsame lebensweltliche Muster haben: Menschen aus der gleichen Herkunftskultur leben in verschiedenen Migranten-Milieus, während im gleichen Milieu Menschen aus verschiedenen Herkunftskulturen sind. Man kann also weder von der Herkunftskultur auf das Milieu schließen, in dem Menschen mit Mh in Deutschland leben, noch kann man vom Milieu auf die Herkunftskultur schließen. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist: Die Mehrheit der Menschen mit Mh orientiert sich in Lebensstilfragen, sozialen Kontakten, ihren Einstellungen gegenüber Deutschland und der Integrationsfrage nicht primär an Landsleuten. Vielmehr haben Menschen unterschiedlicher Herkunftskulturen, die einen ähnlichen Lebensstil pflegen und Gemeinsamkeiten bei den sozialen Kontakten aufweisen, auch ähnliche Einstellungen gegenüber der Integrationsfrage. Besonders Menschen mit Mh aus den modernen Milieus sind gesellschaftlich viel besser integriert, als man landläufig denkt. Wippermann und Flaig stellen fest: »Viele, insbesondere in den soziokulturell modernen Milieus, haben ein bikulturelles Selbstbewusstsein und eine postintegrative Perspektive. Das heißt, sie sind längst in dieser Gesellschaft angekommen. Vor diesem Hintergrund beklagen viele – quer durch die Migranten-Milieus – die mangelnde Integrationsbereitschaft der Mehrheitsgesellschaft und das geringe Interesse an den Eingewanderten. Etwa ein Viertel der befragten Menschen mit Migrationshintergrund fühlt sich isoliert und ausgegrenzt – insbesondere Angehörige der unterschichtigen Milieus.« Dies dürfte ein zentraler Grund sein, warum 50 % der von Sinus Befragten angeben, dass sie viel Zeit mit Menschen verbringen, die den gleichen Migrationshintergrund haben. Zur Frage, inwiefern Katholiken mit Mh sich nicht nur in der deutschen Gesellschaft, sondern auch in der deutschen Kirche integriert fühlen und inwiefern dies eher durch muttersprachliche oder deutschsprachige Gemeinden geschieht, geben die Sinus-Migrantenstudien leider keine Auskunft.

Ähnlich wie für andere Teilgruppen der Gesellschaft, wie z. B. die unter 27jährigen Katholiken, haben die Sinus-Migrantenstudien insgesamt acht Milieus identifiziert, die sich durch ihre Grundorientierungen, Werte und ihre alltags-ästhetischen Präferenzen unterscheiden. Zu jedem dieser Milieus wurde ein Profil hinsichtlich der sozialen Lage erstellt, in das neben Altersstruktur und Bildungsabschlüssen der berufliche Status und die Einkommensverhältnisse integriert wurden. Die Übersicht informiert über zentrale Merkmale der Milieus und ihren Anteil an der Gesamtpopulation der Menschen mit Mh in der BRD.

Der Anteil der Katholiken an der Gesamtheit der Migranten-Milieus beträgt 33 %. Die Kartoffelgrafik zeigt die acht von Sinus differenzierten Migranten-Milieus und gibt zugleich Aufschluss über den Anteil der Katholiken in den Milieus. In sieben Milieus beträgt ihr Anteil zwischen 31 und 37 %. Nur im »Religiös-verwurzelten Milieu « (A3) sind Katholiken mit 18 % unterrepräsentiert, während Muslime mit 54 % hier überrepräsentiert sind. Die »katholischen Schwerpunktmilieus« mit einem Anteil von 35 % und mehr verteilen sich über die Grundorientierungen A bis C, haben in der sozialen Lage aber ein Übergewicht im oberen Bereich.

Weil die Prozentzahlen auf Angaben der Meldebehörden basieren, geben sie weder Auskunft über die praktizierte Religiosität noch über die Qualität der Kirchenmitgliedschaft von Katholiken mit Mh. Korreliert man jedoch die für Menschen eines Milieus typischen Grundeinstellungen mit den Angaben darüber, wie wichtig es ihnen ist, die eigene Religion auszuüben, und vergleicht dies mit den Ergebnissen der Sinus-Kirchenstudie, lassen sich begründete Annahmen über die Nähe oder Distanz der Migranten verschiedener Milieus zu einer muttersprachlichen Mission oder einer Ortsgemeinde formulieren. Im traditionellen Arbeitermilieu und im adaptiven bürgerlichen Milieu, im statusorientierten Milieu, aber durchaus auch im entwurzelten Milieu gibt es wahrscheinlich eine überdurchschnittlich hohe Zahl aktiver Katholiken, denen der Kontakt zur Kirche so wichtig ist, dass sie auch für die Teilnahme ihrer Kinder an katechetischen Angeboten sorgen. Für Katholiken aus dem adaptiven Migrantenmilieu ist »besonders die Offenheit für Kinder und Familie in der Gemeinde wichtig … Menschen dieser Milieuorientierung suchen gezielt Kontakt zu ihrem deutschen Umfeld. Konfessioneller Kindergarten … und die Angebote der Sakramentenkatechese in der Ortsgemeinde werden bei Katholiken dieses Milieus … auf Resonanz stoßen. Auch die Bereitschaft mitzutun, und zwar nicht nur um der Kinder, sondern auch um der eigenen Integration willen«, wird in diesem Milieu besonders stark sein.

Zwischen den Sinus-Milieus der Gesamtbevölkerung der BRD und den Migranten-Milieus gibt es erhebliche Überlappungen. Wippermann und Flaig stellen fest: »Im Ergebnis sind die Unterschiede in der sozialen Lage, das heißt hinsichtlich Einkommens- und Bildungsniveau zwischen Migranten und Einheimischen nicht sehr groß. … Dagegen ist das Spektrum der Grundorientierungen bei den Migranten breiter, das heißt heterogener als bei den Bürgern ohne Zuwanderungsgeschichte. … Es gibt also in der Migranten-Population sowohl traditionellere als auch soziokulturell modernere Segmente als bei einheimischen Deutschen.« Die je individuelle Zuwanderungsgeschichte mit den Umständen und Motiven der Migration prägt zusammen mit den Sinnangeboten, Wertvorstellungen, Welt- und Lebenskonzepten, die Zuwanderer mitbringen und die sie in Deutschland vorfinden, die Grundorientierung von Menschen mit Mh einschließlich ihrer religiös-weltanschaulichen Orientierung.

Beim Vergleich der acht Migranten-Milieus mit den zehn Milieus der Gesamtbevölkerung fällt auf, dass die Milieus der sogenannten Konservativen und der Etablierten fehlen. Weil sich solche traditionellen Oberschichtmilieus für Migranten wegen der relativ kurzen Dauer des von Sinus berücksichtigten Migrationsgeschehens (seit 1950) kaum bilden konnten, überrascht dies nicht. Der Vergleich zeigt außerdem, dass die Migranten-Milieus im Unterschied zum Milieumodell für die Gesamtbevölkerung der BRD meist nicht eindeutig in einem Werteabschnitt liegen, sondern sie erstrecken sich oft über zwei Werteachsen und sind damit wertemäßig heterogener. »Diese Lagerungen sind möglicherweise das Resultat einer multikulturellen Adaption (Lebenswelten mit und zwischen alten und neuen Welten und Wertemustern). Das ist zum einen ein Indikator für die starke Dynamik des Wertewandels bei einem großen Teil der Migranten. Zum anderen manifestiert sich darin die Notwendigkeit und Bereitschaft zur Veränderung, zur bikulturellen Kompetenz und Flexibilität. Das führt zu der These, dass die Ressourcen an kulturellem Kapital von Migranten in Deutschland bisher weitgehend unterschätzt werden, weil der Begriff ›Migrant‹ spontan das Bild vom retardierten, anomischen, starren, unbeweglichen Fremden und Außenseiter evoziert, der Halt in seiner ethnischen Enklave sucht und dessen Horizont von ethnischen oder religiösen Verbänden begrenzt wird. Tatsächlich haben nur 22 % aller Menschen mit Migrationshintergrund schon einmal eine … ausländische Mission, Moschee u. ä. … besucht.« Wie informelle Beobachtungen in katechetischen Gruppen und Gespräche mit Gottesdienstteilnehmern in deutschsprachigen Gemeinden zeigen, bevorzugen nicht wenige Katholiken mit Migrationshintergrund die Teilnahme an pastoralen Angeboten der Ortsgemeinden. Insgesamt dokumentieren die Sinus-Migratenstudien die soziokulturelle Heterogenität der Menschen mit Mh in Deutschland und bekräftigt die Notwendigkeit, auch Katholiken mit Mh differenziert zu betrachten.

2. Migration als Familienprojekt

Migration ist ein Familienprojekt, das Entscheidungen von Eltern und Kindern erfordert und verbunden ist mit gegenseitiger Unterstützung, mit differenzierten Akkulturationsprozessen und vielschichtigen Erziehungsrealitäten. Zudem kann die Familienmigration sich über mehrere Generationen erstrecken, und die normalerweise zunehmende Distanz der dritten und vierten Migrantengeneration zur Herkunftskultur der Eltern kann durch transnationale Heiraten wieder verringert werden. Im Jahr 2000 lebten fast drei Viertel aller Ausländer in der BRD (71,7 %) in Familienhaushalten mit Kindern, während von den Deutschen im Jahr 2000 nur etwa die Hälfte (53,3 %) in einem Haushalt mit Kind(ern) lebte. Verursacht ist dies zum einen durch die jüngere Altersstruktur der ausländischen Bevölkerung und zum anderen durch die höhere Geburtenrate bei ausländischem Paaren. 86,1 Prozent aller ausländischen Familien mit Kind(ern) sind Ehepaar-Familien, während dies bei deutschen Familien mit Kind(ern) nur 78,4 Prozent sind. Familien mit Mh stehen zusätzlich zur Gestaltung des alltäglichen Familienlebens in Deutschland vor der Aufgabe, sich in der Mehrheitskultur zurechtzufinden und eine für sie passende Balance zwischen Assimilation und Separation zu entwickeln.

2.1 Familienaufgaben im Migrations- und Akkulturationsprozess

Wenn das Familienprojekt Migration im Herkunftsland mit dem Gedanken beginnt, die Heimat zu verlassen, können die Gefühle sowohl der Eltern als auch der Kinder zwischen Euphorie und Angst vor der Zukunft erheblich schwanken, sodass innerhalb der Familie viel Druck im Hinblick auf eine gemeinsame Entscheidung entstehen kann. Meistens wandert der Vater dann als erster aus. Die Frau und die Kinder werden später nachgeholt. Nicht selten kommt es zur Kettenwanderung, wenn weitere Familienangehörige und Bekannte nachziehen. Hilfreich für das Ankommen in Deutschland sind bereits länger hier lebende Verwandte, Freunde und Angehörige derselben ethnischen Gruppe.

In den ersten Jahren nach der Einwanderung versuchen die meisten Migrationsfamilien die auftretenden Defizite und Spannungen auszugleichen bzw. abzuwehren. Viele Menschen mit Mh machen früher oder später Erfahrungen mit Ausländerfeindlichkeit, Diskriminierung und Benachteiligung im Umgang mit Ämtern, Schulen und durchaus auch im religiösen Bereich. Sie erleben die Konfrontation ihrer herkunftskulturellen Interaktions- und Kommunikationsstrukturen mit für sie ungewohnten Strukturen in Deutschland. »Zur Konfliktabwehr ziehen sich Migrationsfamilien häufig in die eigene Gruppe zurück und akzentuieren ethnische Verhaltensmuster … Ethnische oder generationale familiale Bindungen können hierbei stabilisierend wirken. Umgekehrt können generationale Unterschiede … zwischen Eltern und ihren Kindern die Spannungen innerhalb der Familie verstärken«. Insgesamt ist jedoch festzustellen, dass die Migration im Familienverband mit geringeren Belastungen einhergeht als eine Migration als Einzelperson, weil die Familienmitglieder sich im Umgang mit Migrationsbelastungen gegenseitig unterstützen.

In der nächsten Phase der Akkulturation können Spannungen und Konflikte in Migrationsfamilien offen ausbrechen, wenn sich die kulturellen und traditionellen Machtverhältnisse in der Familie auf den Kopf stellen, die Rollen in der Familie neu definiert, durchgesetzt und eingeübt werden müssen, und Spannungen zwischen Assimilation und Ethnizität bzw. Separation auszubalancieren sind. Das familiäre Konfliktniveau ist zum einen von der Diskrepanz zwischen dem Akkulturationsniveau der Eltern und jenem der Kinder abhängig. Zum anderen hängt das Konfliktniveau von den kulturspezifischen Konfliktbewältigungsstrategien der jeweiligen Migrationsfamilie ab.

2.2 Formen der Akkulturation in Migrationsfamilien


Familien mit Mh unterscheiden sich durch den jeweiligen kulturellen Hintergrund, die konkrete Migrationserfahrung, ihren aufenthaltsrechtlichen Status und ihre Akkulturationsstrategien in der Aufnahmegesellschaft. Das Akkulturationsmodell von John Berry differenziert vier Formen des Umgangs mit Fremdheitserfahrungen: Bei Integration steht auf Seiten der Zugewanderten und auf Seiten der Einheimischen das Bemühen im Vordergrund, unter Beibehaltung der eigenkulturellen Identität den Kontakt zur Fremdkultur zu vertiefen. Bei Segregation bzw. Separation vermeiden die Handelnden Fremdkontakte. Bei Assimilation geben Minderheitsangehörige ihre herkunftskulturelle Identität weitgehend auf zugunsten der Übernahme von Werten der Mehrheitsgesellschaft und des Aufbaus einer neuen Identität. Bei Marginalisierung entsteht sowohl gegenüber der Herkunftskultur als auch gegenüber der Fremdkultur eine ablehnende Haltung.

Auf welche Akkulturationsform eine Migrationsfamilie sich grundsätzlich einlässt, ist vor allem abhängig vom Ausmaß alltäglich erlebter Benachteiligung und Diskriminierung, aber auch vom Grad der sozialen Differenz (finanzielle Mittel, Aufenthaltsstatus) zwischen den jeweiligen Migranten und dem Durchschnitt der Mehrheitsbevölkerung und nicht zuletzt vom Grad der kulturellen Differenz zwischen Herkunftskultur und Mehrheitskultur. Häufig wählen Menschen mit Mh für verschiedene Lebensbereiche unterschiedliche Strategien: In den Bereichen Arbeit und Schule nutzen viele die Assimilationsstrategie, während sie im Freizeitbereich eher die Separationsstrategie verfolgen. Außerdem haben einzelne Familienmitglieder einen unterschiedlich großen Spielraum zur Wahl individueller Strategien in einzelnen Lebensbereichen. Manche Kinder mit Mh verfolgen (sofern von den Eltern zugelassen) möglichst konsequent die Assimilationsstrategie, während ihre Eltern in bestimmten Bereichen (wie Erziehung, religiöse Praxis) die Separationsstrategie vorziehen, um zumindest etwas von der eigenen Kultur erhalten und den Kindern vermitteln zu können.

Die Weitergabe von Werten der eigenen Kultur ist für zugewanderte Eltern im Akkulturations prozess grundsätzlich schwierig, weil sie allein durch die Eltern bzw. die ethnische Gemeinschaft geleistet werden muss, und die Schule (sowie Medien) der Aufnahmegesellschaft als unterstützende Sozialisationsinstanzen ausfallen. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass Kinder aus Migrationsfamilien sich stärker an den Standards der Einheimischen orientieren (müssen) als die Eltern, um ihr Leben in der Mehrheitsgesellschaft erfolgreich zu meistern. Her anwachsende mit Mh sind in der Schule und anderen außerfamiliären Kontexten direkter mit neuen Sozialisationsaufgaben konfrontiert und stehen damit unter größerem Anpassungsdruck als ihre Eltern am Arbeitsplatz oder im Wohnumfeld. Für Migrationsfamilien stellt die Weitergabe von Werten im Prozess der Akkulturation eine besondere Herausforderung dar, weil die Eltern ihre Kinder gerade im Fall einer erfolgreichen Transmission herkunftskultureller Werte in erhebliche Schwierigkeiten bringen können. Migranteneltern sind im Akkulturationsprozess mit der erzieherischen Doppelaufgabe konfrontiert, ihren Kindern einerseits eigene traditionelle Werte weiterzugeben und ihnen andererseits die Übernahme zentraler Werte des Aufnahmelandes zu ermöglichen.

Inwiefern einer Migrationsfamilie beim Ausbalancieren der Spannung zwischen Assimilations- und Separationsbestrebungen auch die Bewältigung ihrer erzieherischen Aufgaben gelingt, hängt entscheidend von den Ressourcen ab, über die die jeweilige Familie verfügt. Familienpsychologen unterscheiden bei Familien mit Migrationshintergrund folgende Ressourcen: Sozialstatus (z. B. finanzielle Mittel), politischen Status (z. B. Aufenthaltsstatus), soziale Ressourcen (z. B. soziales Netzwerk) und Familienkohäsion. Die familiäre Kohäsion bildet insbesondere dann eine wichtige protektive Ressource, wenn Familienmitglieder Diskriminierung und soziale Benachteiligung erfahren. Empirische Studien der Migrationsfamilienforschung zeigen, »dass kohäsive Familien mit weniger Eltern-Kind-Konflikten in familiären Outcome-Variablen wie Wohlbefinden, Schulleistung der Kinder, soziale Unterstützung, Bildungsaspiration usw. konfliktreichen Familien überlegen sind.«

3. Eltern-Kind-Beziehungen und die Weitergabe von Werten im Akkulturationsprozess

Im Prozess der Akkulturation hat die Eltern-Kind-Beziehung wichtige Funktionen. Mit ihren Einstellungen und ihrem Verhalten können Eltern die Akkulturation ihrer Kinder zu einem guten Ergebnis bringen oder erschweren. Umgekehrt können jedoch auch die Kinder zugewanderter Familien den Akkulturationsprozess ihrer Eltern positiv oder negativ beeinflussen. Vor dem Hintergrund kulturvergleichender Studien zu Eltern-Kind-Beziehungen erläutert Gisela Trommsdorff: »Der grundlegende Unterschied in Eltern-Kind-Beziehungen in verschiedenen Kulturen kann darin gesehen werden, dass eher independente Beziehungen zwischen unabhängigen eigenständigen Personen oder … eher interdependente Beziehungen zwischen miteinander eng verbundenen, gegenseitig voneinander abhängigen Personen bestehen. Independente Beziehungen können durch Spannungen und Konflikte gekennzeichnet sein, während interdependente Beziehungen eher durch Harmonie und Kooperation … gekennzeichnet sind … Ob eher Independenz oder Interdependenz in der Eltern-Kind-Beziehung besteht, hängt vom kulturellen Kontext ab und den durch ihn vermittelten Werten und beruht auf den bisherigen Erfahrungen und dem eher auf Unabhängigkeit oder eher auf Interdependenz beruhenden Selbstkonzept. Entsprechend unterscheiden sich kulturspezifische Erziehungstheorien, -ziele und -verhalten der Eltern und damit die Entwicklungsnische, in der das Kind aufwächst, sowie der weitere Entwicklungspfade für die Eltern-Kind-Beziehung.«

Im Fall einer Familie, die aus einer Kultur mit interdependenter soziokultureller Orientierung in eine Kultur mit independenter soziokultureller Orientierung kommt (was für die Mehrheit der Migranten gilt), entsteht erhebliches Konfliktpotenzial, wenn beispielsweise die Kinderärztin, ein Lehrer oder eine Katechetin bestimmte Vorstellungen über den richtigen Um gang mit Kindern hat und darüber, wie sich ein »gutes « Kind verhalten sollte. Die in der Regel independenten Vorstellungen, die von Angehörigen der Mehrheitskultur gegenüber Migranten implizit oder explizit vertreten werden, beruhen auf einem bestimmten Verständnis des Menschenbildes, das sie im Laufe der eigenen Sozialisation als Konzeption von sich selbst, von anderen, von den Beziehungen zwischen Selbst und Anderen und möglicherweise auch zwischen sich selbst und Gott erworben haben. Migranten sind somit neben allen anderen Veränderungen im Akkulturations prozess mit den independenten Orientierungen der Mehrheitskultur konfrontiert, die ihren familialen Normen und Werten häufig diametral gegen überstehen. Wenn z. B. eine Lehrerin, die »eher independent orientiert ist, den Eltern mitteilen möchte, dass sich ihr Kind ›gut‹ in der Schule entwickle, und ihnen sagt, dass der Sohn … in der Lage sei, unabhängig und selbständig zu arbeiten,« so verstehen die Eltern dies möglicherweise »als Kritik an der sozialen Eingliederung ihres Kindes in der Klassengemeinschaft« und hören heraus, »dass ihr Kind isoliert von der Gruppe« ist.

Bei der Erfüllung (religions-)pädagogischer Aufgaben in kulturellen Überschneidungssituationen von independenten und interdependenten soziokulturellen Orientierungen und Weltbildern können folgende Sichtweisen, Werte und Verhaltensweisen kollidieren:
– Betrachtung der Einzelperson als Individuum oder als Teil der Gruppe
– Unabhängigkeit oder Hilfsbereitschaft
– Lob, um das Selbstgefühl zu stärken, oder Tadel, um das normativ erwünschte Verhalten zu unterstützen
– Betonung kognitiver Fähigkeiten oder Betonung sozialer Kompetenzen
– Verbale Expressivität oder aufmerksames Zuhören
– Betonung persönlichen Eigentums oder Teilen
– Wettbewerb oder Kooperation.

Wenn das kulturelle Weltbild einer Migrationsfamilie z. B. Schweigen und Zuhören in der Katechese oder »im Unterricht positiv bewertet und diese als bedacht und besonnen interpretiert werden, werden die Eltern Wert darauf legen, dass ihre Kinder nicht unbedacht sprechen, sondern anderen gegenüber ernsthaft und aufmerksam sind.« Auf weitere Beispiele weisen Untersuchungen von japanischen, koreanischen und deutschen Jugendlichen hin: Im Vergleich zu deutschen Jugendlichen fühlen ostasiatische Jugendliche sich zurückgewiesen, wenn sie wenig elterliche Kontrolle erfahren. Auch bei der Frage nach der Reife eines Heranwachsenden kommt es leicht zu Missverständnissen: In vielen nicht-westlichen Kulturen werden Kinder beispielsweise als reif bezeichnet, wenn sie fähig sind, ihre Rollen und Pflichten in einer hierarchischen Familienstruktur zu erfüllen. Dies kann darin bestehen, sich um jüngere Geschwister oder alternde Eltern zu kümmern. Selbst wenn Reife in diesem Sinn erreicht wurde, sind die Beziehungen zwischen Eltern und reifen Kindern jedoch nicht (wie in westlichen Kulturen üblich) durch die Autonomie der Kinder gekennzeichnet, sondern durch die Interdependenz sowohl der Eltern als auch der Kinder. Wo Menschen aus verschiedenen Kulturen miteinander zu tun bekommen, kommt es somit leicht zu Missverständnissen und Konflikten, die erst geklärt werden können, wenn beide Seiten sich geduldig darum bemühen, Ungewohntes zu verstehen. Besondere Herausforderungen ergeben sich für bikulturelle und bireligiöse Paare im Umgang mit Erziehungsfragen.

Eine kulturinformierte Sicht der Eltern-Kind-Beziehung geht davon aus, dass sich die Beziehungen in familiären Akkulturationsprozessen auf verschiedenen Pfaden entwickeln können. Folgt die Familie dem westlichen, individualisierten kulturellen Muster, beruhen Eltern-Kind-Beziehungen eher auf Independenz, sodass Partnerschaft, Akzeptanz von Konflikten und das Aushandeln individueller Interessen geschätzt werden. Folgt die Familie einem kollektivistischen Muster wie dem ostasiatischen, beruhen die Eltern-Kind-Beziehungen eher auf Interdependenz und sind durch Harmonie, Kooperation und wechselseitige Verpflichtungen gekennzeichnet. Migrationsfamilien aus kollektivistischen Herkunftskulturen stehen bei der Gestaltung der Eltern-Kind-Beziehungen in Deutschland somit vor der Aufgabe, vielfältige Kompromisse und kreative Arrangements durch Wertemischungen zwischen interdependenten und independenten Beziehungsmustern zu entwickeln.

Untersuchungen von Bernhard Nauck zur intergenerationellen Transmission von Werten weisen darauf hin, dass Heranwachsende, deren Eltern aus eher kollektivistischen Herkunftskulturen stammen, in Deutschland dazu tendieren, kollektivistische Werte vor allem in Bezug auf die Familie zu internalisieren und gleichzeitig hohe Bildungsaspirationen zu haben. Solche Verbindungen von kollektivistischen Werten für das innerfamiliäre Verhalten einerseits und Leistungsorientierung im außerfamiliären Verhalten andererseits sind für Jugendliche aus Migrationsfamilien ein (lebens)hilfreicher Kompromiss zwischen der notwendigen Anpassung an die Aufnahmegesellschaft im schulischen bzw. beruflichen Bereich und der gleichzeitig gewünschten Unterstützung durch ihre Familie.

Ein koordiniertes Handeln zwischen den Generationen in Migrationsfamilien erfordert nicht nur die Bereitschaft der Eltern, neben Werten ihrer Herkunftskultur Werte der Aufnahmekultur im Erziehungsprozess zu akzeptieren, sondern gleichzeitig die Bereitschaft der Kinder neben Werten der Aufnahmekultur auch Werte der Herkunftskultur der Eltern zu übernehmen. Auf beiden Seiten sind also Flexibilität und Kompromissbereitschaft erforderlich, damit die Gratwanderung der Familienmitglieder zwischen Assimilation und Separation gelingt. Die Übernahme kollektiver, familialistischer Orientierungen durch Heranwachsende mit Mh kann u. U. zwar integrationshinderlich wirken, erweist sich in der Regel jedoch als protektiver Faktor und dient der psychischen Stabilisierung.

Herwartz-Emden weist darauf hin, dass Kinder und Eltern »in Migrantenfamilien mehr übereinander wissen und mehr miteinander kommunizieren als vergleichbare deutsche Familien. Die Generationenbeziehungen sind keineswegs nur durch Zerrüttung oder schwer wiegende Konflikte charakterisiert, sondern durch ein hohes Maß an Unterstützung und gegenseitigen Respekt«. Die Familie ist für viele Heranwachsende mit Mh eine wichtige soziale Ressource zur Verarbeitung schulischer, beruflicher und sozialer Enttäuschungen. Aufgrund ihrer Kohäsion stellen durchaus auch interdependent geprägte Eltern-Kind-Beziehungen entsprechende Ressourcen zur Verfügung und wirken positiv auf den Integrationsprozess ihrer Kinder ein.

4. Solidarpotenziale, Diskriminierung und Partizipation – auch im kirchlichen Kontext?

4.1 Soziale Unerstützung

Das Solidarpotenzial der intergenerativen Beziehungen innerhalb der Familie ist für viele Migranten die größte Ressource im Akkulturationsprozess. Empirische Untersuchungen zeigen: »Stabile intergenerative Beziehungen in Migrantenfamilien sind der wichtigste Schutzfaktor gegen eine drohende Marginalisierung von Jugendlichen der zweiten Generation. Als allgemeiner Trend zeigt sich deutlich, dass Migranteneltern am Eingliederungsprozess ihrer Kinder interessiert sind, was sich insbesondere aus den hohen Bildungsaspirationen ergibt. Dieses Interesse nimmt allenfalls ab, wenn damit eine … Gefährdung der Generationenbeziehung verbunden ist.«

Außerdem stellen soziale Netzwerke im eigenethnischen Kontext für Eltern und Kinder mit Mh ein hilfreiches soziales Kapital dar, das auch ungewohnte Situationen kontrollieren und verstehen hilft und somit erheblich zum Wohlbefinden beiträgt. Wenn die Kontakte jedoch langfristig auf eigenkulturelle Netzwerke beschränkt bleiben, verlangsamt dies nicht nur die Assimilation, sondern kann zum Integrationshemmnis werden. »Vielfach verhindert der Rückzug in eigenkulturelle bzw. eigenethnische Nischen die erfahrene Deklassierung und Entwertung und stellt einen Rückzug in einen Raum dar, der vor einer permanenten Infragestellung der eigenen Existenz schützt.« Insgesamt ist die Funktion eigenkultureller Netzwerke also ambivalent: Während sie einerseits Schutz und Sicherheit bieten, können sie andererseits integrationserschwerend wirken.

Optimale Unterstützung im Umgang mit Akkulturationsanforderungen ist nur denjenigen Migranten zugänglich, die gut eingebunden sind in soziale Netzwerke beider Kulturen. Die Möglichkeit, auf externe soziale Stützsysteme nicht nur der eigenen Kultur, sondern auch der Mehrheitskultur zugreifen zu können, vermindert den Akkulturationsstress erheblich und trägt zur Akkulturation im Sinne wechselseitiger Integration bei. Im kirchlichen Bereich sollte es deshalb nicht nur in muttersprachlichen, sondern auch in deutschsprachigen Gemeinden soziale Netzwerke geben, in denen Menschen mit Mh willkommen sind und bei der Akkulturation so unterstützt werden, dass Integration gelingt.

4.2 Ausgrenzung und Diskriminierung

Solange aber Migrantinnen und Migranten sowohl im gesellschaftlichen Kontext als auch in kirchlichen Gemeinden erleben, dass sie nicht wirklich willkommen sind, insofern die Mehrheit von ihnen entweder erwartet, dass sie sich an die »normalen« Standards der Mehrheitskultur anpassen, oder sie faktisch ausgegrenzt werden, tendieren sie dazu, Kontakte mit einheimischen Gemeinden zu meiden. Die meisten Migranten erleben vor allem bei der Arbeit Anpassungsdruck, vorurteilsbelastete Einstellungen bei Mehrheitsangehörigen und rassistische Strukturen. Wenn Migranten im Kontakt mit Ortsgemeinden ähnliche negative Erfahrungen mit Mehrheitsangehörigen machen, sind sie verständlicherweise nicht bereit, weiteren Anpassungsdruck, Ausgrenzung und rassistisches Verhalten in ihrer Freizeit zu ertragen. Die Konsequenz ist, dass Migranten sich mit ihren Verletzungen zurückziehen, weil sie wissen, dass die »alteingesessene « Mehrheit stärker ist. Manche Migranten ziehen deshalb den Besuch von Gottesdiensten in einer muttersprachlichen Mission den pastoralen Angeboten ihrer Wohngemeinde vor, während andere in Deutschland völlig distanziert zur Kirche leben; einige von letzteren allerdings mit durchaus wehmütigen Erinnerungen an ihre frühere christlich-kirchliche Lebenspraxis.

Diejenigen Migranten, die Anschluss an eine muttersprachliche Mission finden, nehmen in der Regel auch die katechetischen Angebote der Mission wahr, indem sie sonntags die Predigt hören und dafür sorgen, dass ihre Kinder an der muttersprachlichen Katechese teilnehmen. Zur Erstkommunionvorbereitung schicken Migranteneltern ihre Kinder gern in eine muttersprachliche Mission in erreichbarer Nähe. Zur Firmung möchten viele Heranwachsende mit Mh dann lieber zusammen mit gleichaltrigen Einheimischen in der Wohngemeinde gehen. Katechetinnen und Katecheten machen jedoch die Erfahrung, dass es etwa vom 13. Lebensjahr an altersbedingt und gruppendynamisch hochgradig schwierig wird, Heranwachsende mit sehr verschiedenen kulturellen und sozialen Hintergründen zu einem guten Miteinander zu führen. Trotz ihrer positiven Erwartungen machen Jugendliche mit Mh bei der Firmkatechese dann häufig ähnlich negative Erfahrungen wie ihre Eltern im Erstkontakt mit der Ortsgemeinde: Sie werden mit einem enormen Anpassungsdruck konfrontiert oder ausgegrenzt, wenn sie sich dem Druck nicht beugen. Günstiger verläuft die entsprechende Gruppendynamik in der Regel bei 4- bis 12-jährigen Kindern. Hier lassen sich die zumeist positiven multikulturellen Erfahrungen aus dem Kindergarten aufgreifen, sodass die Erstkommunionkatechese in kulturell und sozial gemischten Gruppen leichter gelingt. Wenn nach der Erstkommunion wiederum gemischte Kinder- und Ministrantengruppen gebildet werden, steigen auch die Chancen für das Gelingen multikultureller Firmkatechese.

4.3 Partizipation als Zielperspektive


Trotz des mehr oder weniger hohen Anpassungsdrucks, mit dem viele Katholiken mit Mh in deutschsprachigen Gemeinden konfrontiert werden, kommen in den Ortsgemeinden der deutschen Bistümer seit etwa 20 Jahren vermehrt Menschen mit Mh zu Gottesdiensten und fragen nach den Sakramenten für sich und ihre Kinder. »Auch an der Katechese nehmen seit einigen Jahren relativ viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene verschiedener Herkunftsländer und Migrantengenerationen teil. Dies geschieht vor allem in Gegenden, wo Migranten keine Gemeinde ihrer Muttersprache in erreichbarer Entfernung von ihrem Wohnort haben.« Dabei ist zu beachten, dass Katholiken anderer Muttersprachen als Getaufte und Gefirmte dieselben Rechte und Pflichten in der katholischen Kirche haben wie deutschsprachige Katholiken. Katholiken mit Mh tragen bekanntlich zu einem erheblichen Teil des Kirchensteueraufkommens bei und haben »nicht nur die Pflicht, ihre getauften Kinder im Glauben zu erziehen, sondern auch das Recht auf gute pastorale und katechetische Begleitung, die auf Beheimatung im kirchlichen Umfeld der … Ortskirche und auf gleichberechtigte Partizipation in der jeweiligen Gemeinde ausgerichtet ist.«

Wenn Katholiken mit Mh Kontakt aufnehmen mit dem Pfarrer oder einer pastoralen Mitarbeiterin der deutschsprachigen Gemeinde, kommt es entscheidend darauf an, sie mit ihrer Lebens- und Migrationsgeschichte, ihren Talenten und Wünschen und ihren eventuellen Akkulturationsschwierigkeiten als Glieder des einen Gottesvolkes aus vielen Völkern wahrzunehmen und ihnen die Partizipation an Aktivitäten, Projekten und Gruppen der Ortsgemeinde zu ermöglichen. Weil das Wort ›Integration‹ in der aktuellen Alltagssprache häufig missverständlich (im Sinne von Assimilation) gebraucht wird, ist es auch im kirchlichen Bereich hilfreich, den weniger missverständlichen Begriff ›Partizipation‹ im Sinne von Teilhabe und Teilgabe, aktiver Mitwirkung und gleichberechtigter Mitbestimmung, zu verwenden und Partizipation als Zielperspektive des Miteinanders von Katholiken mit und ohne Mh zu verstehen. Auf dem Weg zur vollen, gleichberechtigten Partizipation von muttersprachlichen Gemeinden und Katholiken mit Mh (sowohl auf der Ebene der Dekanate und großen pastoralen Räume als auch auf der Ebene multikultureller deutschsprachiger Ortsgemeinden) sind allerdings noch viele Schritte zu tun.

Zu den ersten Schritten auf diesem Weg gehören von Seiten der Einheimischen Taten und Zei chen der Solidarität mit den zugewanderten Brüdern und Schwestern. Hilfreich sind für Migranten vor allem konkrete Angebote zum Aufbau persönlicher Kontakte, Beziehungen und Freundschaf ten mit katholischen Mehrheitsangehörigen. Häufig ist die soziale Unterstützung durch gute Kontakte mit Einheimischen zur Bewältigung von Akkulturationsbelastungen und zur Beheimatung im neuen Umfeld wichtiger als materielle Unterstützung. »Alltägliche Diakonie in den Formen von freundlicher Aufnahme und Akzeptanz, Interesse an den Ansichten, Erlebnissen und Fragen des Anderen zeigen, Zuhören, einen guten Rat geben bzw. einen Insider-Tipp, eine gemeinsame Unternehmung oder die wechselseiti ge Betreuung von Kindern, können für Migranten zu Schlüsselerlebnissen auch und gerade im kirchlich-gemeindlichen Akkulturationsprozess werden.« Außerdem ist es hilfreich, wenn Einheimische sich nicht nur als Dolmetscher, Kulturmittler oder Integrationstandems für Zugewanderte einsetzen, sondern auch als Anwälte der Würde und Gleichberechtigung der Migranten in der Gemeinde engagieren und z. B. in Diskussionen im Pfarrgemeinderat als Minderheitsanwalt für die Anliegen und Rechte der Gemeindemitglieder mit Mh einstehen. Katholiken mit Mh brauchen für ihren Akkulturationsprozess in einer deutschsprachigen Gemeinde allemal viel Mut und Durchhaltevermögen auf dem Weg zur vollen Partizipation.

5. Religionspädagogische Konsequenzen

Weil auch Migrationsfamilien nicht nur der Ort prägender Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sind, sondern auch originärer Ort der Gottesbeziehung, der religiösen Interaktion und der Weitergabe religiös fundierter Wertvorstellungen, ist es religionspädagogisch wichtig, diesen Familien im Akkulturationsprozess subjektorientierte und familienbiographische Formen katechetischer Begleitung anzubieten. Auch kirchlich distanzierte Familien mit Mh nutzen religiöse Rituale, Symbole und Feste, die den Eltern aus ihrer Herkunftskultur vertraut sind und ihren Alltag transzendieren. So generieren Migrationsfamilien ihre je eigene Art von Familienreligiosität, die sie in mehr oder weniger privatisierter Form, teilweise aber auch vernetzt mit institutionalisierter Religion weiterentwickeln.

Migrationsfamilien stehen bei der Entwicklung einer von Eltern und Kindern geteilten Familienreligiosität im Akkulturationsprozess insbesondere vor der Herausforderung, auch mit den religiösen Fragen konstruktiv umzugehen, die ihre Kinder aus der Schule mitbringen. Wenn Kinder und Jugendliche mit Mh zuhause davon erzählen, wie die familiale Religiosität und die in der Familie vermittelten, eher konventionellen religiösen Vorstellungen von Klassenkameraden und Religionslehrern kritisch hinterfragt werden, ist das für die Eltern befremdlich und stellt ihre Autorität in Frage. Wenn Kinder mit Mh dann von ihren Eltern wissen wollen, wie sie mit kritischen Fragen zu eher traditionellen religiösen Vorstellungen umgehen, versuchen Migranten eltern entweder ihre herkömmlichen Vorstellungen zu verteidigen oder sie offenbaren den Kindern ihre eigene innere Distanz zum Glauben der Kirche oder aber sie verweigern sich dem Gespräch über religiöse Fragen. Die Transmission religiöser Vorstellungen und Praxisformen kann in Migrationsfamilien nur dann gelingen, wenn sowohl Eltern als auch Kinder in der Lage sind, sich hinsichtlich ihres Glaubensverständnisses auf Kompromisse einzulassen und kreative religiöse Arrangements zu entwickeln, die für ihre Akkulturationssituation hilfreich sind.

Die zentrale Aufgabe der katechetischen Begleitung von Migrationsfamilien liegt darin, dass Eltern und Kinder den Zuspruch der liebenden Nähe Gottes in den Bemühungen um ihr gemeinsames Leben zwischen den verschiedenen religionsbezogenen Vorstellungen und kulturellen Orientierungen erfahren können und sich ihnen der damit verbundene evangeliumsgemäße Anspruch so erschließt, dass der Akkulturationsprozess der Familie gelingt. Zur Erfüllung dieser Aufgabe bedarf es einer hohen Sensibilität für die Migranten und ihre Akkulturationsbemühungen, für die von ihnen erlebten Kulturdifferenzen und Benachteiligungen. Außerdem müssen die multikulturelle katechetische Situation und das Kirchenverständnis des Zweiten Vaticanums, wonach Kirche das Zeichen und Werkzeug der Vereinigung mit Gott und der Einheit der ganzen Menschheit ist, so ernst genommen werden, dass die Katechese grundsätzlich interkulturell und in weltkirchlicher Perspektive gedacht und praktiziert wird. Wenn interkulturelle Katechese als Querschnittsaufgabe allen katechetischen Handelns verstanden wird, können Teilnehmende mit und ohne Migrationshintergrund im Horizont der Reich-Gottes-Botschaft sowohl Beheimatung als auch Identitätsstärkung erfahren und gleichzeitig motiviert werden, sich für andere Kulturen zu öffnen und das Anders-Sein anderer als Reichtum erfahren lernen.

Im Einzelnen zeichnet interkulturelle Katechese sich dadurch aus, dass sie
– zur christlichen Identitätsbildung in der Spannung von Beheimatung im Vertrauten und interkultureller Begegnung mit Fremden beiträgt
– das biblische Menschenbild erschließt, das die gleich Würde aller Menschen verschiedener Herkünfte und Kulturen begründet und dazu inspiriert, die Würde jedes Menschen zu achten
– ein katholisches, umfassendes Verständnis von Kirche erschließt, in der sowohl Einheit als auch Verschiedenheit erfahrbar wird
– die unterschiedlichen kulturellen Prägungen der Teilnehmenden berücksichtigt
– den Teilnehmenden verschiedenkultureller Herkunft die Glaubensquellen als allen gemeinsam gehörende Reichtümer erschließt
– Begegnungen zwischen Katholiken mit und ohne Migrationshintergrund anstiftet, ohne die Teilnehmenden zu überfordern
– nicht ausschließlich in multikulturellen Gruppen stattfindet, sondern es den die Teilnehmenden mit Migrationshintergrund auch in differenzierten Gruppen ermöglicht, Fragen zu bearbeiten, die sie in besonderer Weise betreffen
– den Teilnehmenden, die sich bei Begegnungen mit Fremden verunsichert fühlen, Möglichkeiten zur Entwicklung einer persönlichen, vertrauensvollen Gottesbeziehung eröffnet, durch die ihr Selbstvertrauen gestärkt wird
– soziale Kompetenzen im Umgang mit Fremden fördert und sich jeder Art von Ausgrenzung, diskriminierenden Haltungen und rassistischem Verhalten widersetzt
– Mehrsprachigkeit bei katechetischen Begegnungen ermöglicht
– Menschen befähigt, an der Sendung der Kirche in alle Kulturen mitzuwirken, die in der Ortskirche präsent sind
– die Teilnehmenden befähigt, sich in diakonischer Absicht für benachteiligte Menschen im eigenen Umfeld zu engagieren.

Ein funktionierendes Familienleben zwischen kulturell verschieden sozialisierten katholischen Eltern und ihren Kinder erfordert ein hohes Maß an Bereitschaft und Fähigkeit, fremde Kulturstandards sowie ungewohnte religiöse Vorstellungen und Praxisformen in die eigenen Wahrnehmungs-, Denk-, Bewertungs- und Handlungsmuster zu integrieren und sich auch innerfamiliär auf einen interkulturellen Lernprozess einzulassen. Deshalb kommt es in der Katechese mit Migranten entscheidend darauf an, die Familien im Umgang mit innerfamiliären Spannungen zu unterstützen. Dies gelingt erfahrungsgemäß besonders gut, wenn Katecheten mit und ohne Migrationshintergrund kooperieren und sowohl die Perspektive der betroffenen Eltern als auch die Perspektive der Kinder berücksichtigt wird. Weil die Integration von Migrationsfamilien entscheidend von der Beteiligung der Mütter abhängt, sind auch bei kirchlichen Integrationsbemühungen familien-systemische Ansätze unverzichtbar, die nicht nur auf die Kinder ausgerichtet sind, sondern auch die Mütter (und Väter) ansprechen. Katechetische Familientage und eine familienkatechetisch angelegte Erstkommunionkatechese schaffen dazu die nötigen Rahmenbedingungen.

Summary
The value systems and religious concepts of migrant families differ to some extent from those of non-migrant families. Non the less the social resources of migrant families enable children as well as parents to develop trust and confidence which help to face the challenges of acculturation. If migrant families are well connected with the majority population, integration will succeed. Integration between Catholics with and without migrant background does not only depend on the pastoral practices of mother tongue missions, but also on those of the local - German speaking - parishes. The article offers a nuanced view of the world of migrant families and the process of acculturation as a project of the family. Possibilities of the transmission of values in migrant families will be pointed out as well as principals of a culturally sensitive and intercultural catechesis.


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