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Leseprobe 3
Thomas Freyer
Sündige Kirche?
Die in jüngster Zeit erfolgte Enthüllung zahlreicher Missbrauchsfälle innerhalb der Kirche und nicht zuletzt die Stimmen der Opfer konfrontiert Theologie und Kirche mit der existenziell und theologisch zentralen Frage, ob denn die Kirche nicht nur eine Kirche der Sünder, sondern – darüber hinaus – auch sündige Kirche ist. Freilich war man schon in der Patristik (Tertullian, Augustinus) davon überzeugt, dass die Kirche nicht nur hinsichtlich ihrer Glieder, sondern diese selbst sündig ist. Die Sünde bestimmt die Wirklichkeit der Kirche als ganze bis in ihre Mitte hinein, ohne allerdings aufzuhören, Kirche Jesu Christi zu sein. Mit dem Beginn der Volkskirche wurde die Sündigkeit der Kirche selbst und nicht nur ihrer Glieder zum unabweisbaren Problem und zur bleibenden Herausforderung. In der »Väterzeit und im Mittelalter [sprach man] unbefangen von der sündigen Kirche, von der Kirche als Sünderin, und zwar nicht nur in dem Sinn, daß das Erbarmen Gottes eine sündige Menschheit zur heiligen Kirche gemacht hat … , sondern auch von der Kirche, insofern sie jetzt sündig ist, von ihrer Sündigkeit als religiösem Zustand« (K. Rahner, Kirche der Sünder, in: Ders., Schriften zur Theologie VI, Einsiedeln – Zürich – Köln 21968, 301–345, hier: 322). In der tridentinisch-nachtridentinischen Zeit, der Zeit der Gegenreformation, der kontroverstheologischen Apologetik und der kirchlichen Abgrenzungsbestrebungen gegenüber der Moderne verlagerte sich der Akzent zunehmend von der umfassenden und vielschichtigen Sicht von Kirche als Mysterium, wie sie bei Origenes und Augustinus begegnet, auf deren sichtbare, rechtliche, hierarchisch-institutionelle Dimension. Damit einher geht die Tendenz zu einer Ekklesiozentrik und einer Selbstgenügsamkeit, durch die die schöpfungs theologische und eschatologische Dynamik von Kirche ebenso wie deren hamartiologische Bestimmtheit weithin ausgeblendet und die Kirche Jesu Christi mit der römisch-katholischen Kirche identifiziert wird. So ist die Kirche nach Robert Bellarmin (1542–1621) »ein so sichtbarer und manifester Zusammenschluß von Menschen wie das Gemeinwesen des römischen Volkes oder das Königreich Frankreich oder die Republik Venedig « (Controversiae generales: De conciliis III c. 2). Das Erste Vatikanische Konzil spricht davon, dass die Kirche »selbst … durch sich … nämlich wegen ihrer wunderbaren Heiligkeit und unerschöpflichen Fruchtbarkeit an allem Guten, wegen ihrer katholischen Einheit und unbesiegten Beständigkeit – ein mächtiger und fortdauernder Beweggrund der Glaubwürdigkeit und ein unwiderlegbares Zeugnis ihrer göttlichen Sendung [ist]« (DH 3013). Schließlich erklärt Leo XIII. in seiner Enzyklika »Immortale Dei« (1885): Die Kirche ist »eine ihrer Art und ihrem Recht nach vollkommene Gesellschaft, da sie die für ihre Erhaltung und Tätigkeit notwendigen Hilfsmittel nach dem Willen und durch die Wohltat ihres Gründers alle in sich und durch sich selbst besitzt« (DH 3167; vgl. DH 3171).

Erst das Zweite Vatikanische Konzil vollzieht einen Paradigmenwechsel. Es eröffnet mit seinen Grundentscheidungen und Positionsmarkierungen einen Referenzrahmen für eine theologische Konkretisierung und Präzisierung, eine ekklesiale Verortung der Rede von der sündigen Kirche und ihres Erfahrungsgehalts, ohne dass allerdings terminologisch von der sündigen Kirche die Rede ist. Dies ist übrigens auch in den nachkonziliaren römischen Publikationen nicht der Fall. Kirche ist als Mysterium das »gesamthafte Resultat des trinitarischen Heilshandelns Gottes « (P. Hünermann), eine mehrdimensionale, »komplexe Wirklichkeit« (una realitas complexa [LG 8,1]) und hat ihr Gravitationszentrum in Christus als dem »Licht der Völker«. Es besteht eine »nicht unbedeutende« Analogie zwischen Inkarnation und Kirche (vgl. LG 8,1). Die Kirche Jesu Christi ist nicht schlechthin identisch mit der katholischen Kirche, jene »subsistiert« in dieser (vgl. LG 8,2). Die katholische Kirche (vgl. LG 23,1) besteht (existit) »in« und »aus« Teilkirchen (ecclesiae particulares), d.h. sie darf nicht zum »Überbau « hypostasiert und idealisiert werden und ist mehr als die Summe ihrer »Teile«. Sie ist und manifestiert sich stets als »konkrete« Kirche.

Das Selbstverständnis der Kirche ist nicht nur ad intra, sondern auch ad extra relational. Sie ist gekennzeichnet durch De-Zentrierung und Ex-zentrik: Es ist konstitutiv für ihr Sein, ihre Sendung und ihr Zeugnis, im Spannungsfeld von Universalität und geschichtlich-kultureller Situiertheit an den Anderen verwiesen zu sein, und zwar insofern, als dieser nicht nur einlinig, gleichsam im Ausgang von der Kirche zur Welt, als Adressat kirchlichen Handelns und Lehrens in den Blick kommt, sondern bereits im Ansatz als wirkliches Gegenüber wahr- und ernst genommen wird (vgl. GS 4 u. 11; siehe Chr. Theobald, Zeichen der Zeit. Herkunft und Bedeutung einer christlich-hermeneutischen Chiffre, in: P. Hünermann [Hrsg.], Das Zweite Vatikanische Konzil und die Zeichen der Zeit heute, Freiburg – Basel – Wien 2006, 71–84, hier: 74 f.).

Wie bereits oben angedeutet, reflektieren das Zweite Vatikanische Konzil und die römischen nachkonziliaren Publikationen, im Unterschied zu teilkirchlichen lehramtlichen Verlautbarungen, nicht näher auf den Zusammenhang, die wechselseitigen Implikationen zwischen dem Sündersein des Einzelnen und der Sündhaftigkeit der Kirche, ohne ihn jedoch zu bestreiten oder als theologisch irrelevant einzustufen. So wird in der Kirchenkonstitution (LG 8,3) gesagt, dass die Kirche »in ihrem Schoß Sünder umfasst [ecclesia in proprio sinu peccatores complectens], zugleich heilig und stets reinigungsbedürftig [sancta simul et purificanda], immerfort den Weg der Buße und Erneuerung [geht]«. Und im Ökumenismusdekret heißt es: »Obwohl ... die katholische Kirche mit der ganzen von Gott geoffenbarten Wahrheit und allen Mitteln der Gnade beschenkt ist, leben dennoch ihre Glieder [membra eius] nicht mit ganzer Glut ... daraus, so dass das Anlitz der Kirche [vultus ecclesiae] den von uns getrennten Brüdern und der gesamten Welt weniger erstrahlt und das Wachstum des Reiches Gottes verzögert wird« (UR 4,6). Offensichtlich war es für die Konzilsväter deshalb nicht unproblematisch, expressis verbis von der sündigen Kirche zu sprechen, weil sie befürchteten, dass dann deren Heiligkeit, d.h. die sakramentale Dimension der Kirche, oder anders formuliert: »dass die Kirche von der Gabe der Heiligung, der ›Aussonderung‹ für Gott lebt« (O. H. Pesch, Katholische Dogmatik aus ökumenischer Erfahrung, Bd. 2: Die Geschichte Gottes mit den Menschen, Stuttgart 2010, 114–121, hier: 120) zur Disposition gestellt werde. Der gleiche Vorbehalt steht wohl auch im Hintergrund der nachkonziliaren römischen Verlautbarungen und Stellungnahmen. So wird etwa in der Shoa-Erklärung »Wir erinnern: Eine Reflexion über die Shoah« vom 16. März 1998 (in: H. H. Henrix – W. Kraus [Hrsg.], Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1986–2000, Paderborn 2001, 110–119) das »Bedauern [geäußert über] »die Fehler und das Versagen jener Söhne und Töchter der Kirche« (117). Das Bedauern sei ein »Akt der Umkehr und Reue (teschuva), da wir als Glieder der Kirche sowohl an den Sünden als auch an den Verdiensten all ihrer Kinder teilhaben« (118). Nicht von ungefähr wird in einer diesbezüglichen Stellungnahme des Gesprächskreises »Juden und Christen« beim ZdK darauf hingewiesen, dass im Unterschied zur Erklärung der Berliner, der Deutschen und der Österreichischen Bischofskonferenzen (13. April 1986): »Die Last der Geschichte annehmen« (Nr. 2), ein »klares Wort zur Mitschuld und Verantwortung der Kirche« fehlt (Nachdenken über die Shoa. Mitschuld und Verantwortung der katholischen Kirche. Hrsg. vom Generalsekretariat des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, 4).

Ohne die Frage entscheiden zu wollen und zu müssen, ob die Konzilsväter an einen impliziten Zusammenhang zwischen den sündigen Gliedern der Kirche und der Kirche als ganzer gedacht haben oder nicht, und vieles spricht für diese These, wie etwa LG 11,2, wo in Bezug auf das Bußsakrament (sacramentum poenitentiae) davon die Rede ist, dass die Sünder, die durch ihr Sündigen die Kirche verwundet haben, mit ihr wiederversöhnt werden (reconciliantur cum Ecclesia quam peccando vulneraverunt), und LG 8,3 hervorgehoben wird, dass die Kirche unbeschadet ihrer Heiligkeit, »immerfort den Weg der Buße und Erneuerung [geht]«, erscheint mir erstens die theologische Triftigkeit für die Annahme jenes ekklesialen Konnexes unabweisbar zu sein.

[...]


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