Herzlich willkommen bei ThQ – die theologische Quartalschrift aus Tübingen
Unsere aktuelle Ausgabe 1/2021
mit folgenden ausgewählten Beiträgen:
Editorial
Michael Theobald
Um dem auf Glück und Heil des Menschen sinnenden Gott der Bibel zu entsprechen, bedarf es nicht nur der sozialen Dimension einer Gemeinschaft, sondern auch eines Ortes samt Ressourcen wie Wasser und Licht, Erde und Früchten, an dem Gottes Idee vom Menschen gelebt und verwirklicht werden kann. Darum weiß schon die Genesis, wenn sie im Anfang erzählt: „Gott, der Herr, nahm den Menschen und gab ihm seinen Wohnsitz im Garten von Eden, damit er ihn bearbeite und hüte“ (Gen 2,15). Dieser Grundgedanke schöpfungsgemäßer Verwurzelung des Menschen als Bedingung seiner Entfaltung findet unter dem Vorzeichen der Erwählung Gottes eines Volkes unter anderen in der großen Erzählung vom Werden Israels im Pentateuch und den Vorderen Propheten (Gen bis 2Kön) seine dramatische Konkretisierung und Zuspitzung: Israel erhält aufgrund von Gottes Zusage an die Väter ein Land zum Lehen (Dtn 9,4f.) mit allen Verpflichtungen, die dieses gemäß der Tora vom Sinai einschließt, sieht sich am Ende dieser Großerzählung aber genötigt, den Verlust der Heilsgabe einzugestehen.
1. Land als Thema der Hebräischen Bibel und der Spatial Turn
Land – oder konkreter: das Land, das Jhwh seinem Volk Israel verheißt – ist zweifellos ein Kardinalthema der Hebräischen Bibel. Das gilt nicht allein, aber es gilt in besonderer Weise für den Pentateuch und die Vorderen Propheten, die gerne als „Geschichtsbücher“ bezeichneten Kanonteile. Der Eindruck, dass sie sich – im wörtlichen Sinne – um das Thema des Landes drehen, verdankt sich der kompositionellen Gestaltung des vorliegenden Zusammenhangs. Er lässt sich durchweg als eine Erzählung lesen, von Gen 1 bis 2 Kön 25. Die Komposition (Zusammenstellung) der älteren Überlieferungen und Teilkompositionen ist, gerade an den Nahtstellen der heutigen Bücher, augenscheinlich darauf angelegt, dass der Leser nicht den Faden verliert; Zeit, Raum und handlungstragende Personen der Erzählung werden bruch- und lückenlos entwickelt. Das gilt auch und gerade dort, wo nichterzählende Materialien (Gesetzessammlungen, Psalmen u. a. m.) Verwendung gefunden haben, insofern die fraglichen Überlieferungen konsequent narrativ eingebunden werden (z. B. das deuteronomische Gesetz als Abschiedsrede des Mose). Wenn man den Zusammenhang nun aber so, nämlich als eine große Erzählung liest, so dreht sich diese um ein großes Thema, das gleichsam von beiden Seiten beleuchtet wird: wie Israel zu seinem Land gekommen ist und es hernach wieder verloren hat. Manfred Weippert hat diesen Handlungsbogen einprägsam als doppelte Ätiologie von Landbesitz und Landverlust bezeichnet.
Bargil Pixner (1921–2002), Mönch der Jerusalemer Dormitio-Abtei, schreibt in seinem Buch über Jesus in Galiläa: „Gott hat sich den Menschen offenbart, nicht nur in bestimmten Zeitabschnitten der Geschichte, sondern auch an ganz bestimmten Orten seiner Schöpfung. [[…]] So kann der Boden des Heiligen Landes […] als ‚Fünftes Evangelium‘ verstanden werden, wie sich schon andere ausgedrückt haben. Wer in diesem Buch der biblischen Landschaft zu lesen gelernt hat, dem öffnet sich mit neuer Klarheit die Botschaft der vier Evangelien.“1
Der Ausdruck „fünftes Evangelium“ wird vielfach dem hl. Hieronymus zugeschrieben, der ab 386 n. Chr. in Bethlehem lebte. Doch findet sich der Ausdruck in seinen Werken nicht. Und unabhängig davon – was bedeutet es denn eigentlich, wenn das Land als fünftes Evangelium bezeichnet wird? Und stimmt es?
Jüdische theologische Deutungen der israelischen Eroberung und Besiedlung des Westjordanlandes seit 1967
Am 7. Juni 1967, während des Sechstagekrieges, eroberte die israelische Armee die seit 1948 unter jordanischer Herrschaft stehende Jerusalemer Altstadt. Den Fallschirmspringern, die durch das Löwentor eindrangen und sich von dort zum Tempelberg wandten, schloss sich der Oberrabbiner der Armee Shlomo Goren an. Er hatte eine Thorarolle und ein Schofar (Widderhorn) bei sich und verlas an der Stelle, wo die beiden jüdischen Tempel standen und sich seit dem 7. Jarhundert der Felsendom, das drittwichtigste muslimische Heiligtum, befindet, einen Aufruf, in dem er die Eroberung Jerusalems und des Tempelbergs durch israelische Soldaten als Erfüllung messianischer Prophezeihungen interpetierte. Danach blies er den Schofar sowohl an der Westmauer (Klagemauer) als auch im Felsendom und läutete damit entsprechend Jes 27,13 den Anbruch der messianischen Zeit ein. Eine weitere messianisch aufgeladene Handlung vollzog er mit seinem Besuch an dem gerade eroberten Rachelsgrab am Eingang von Betlehem, wo es ihm gelang, den Kenotaph Rachels um Mitternacht, dem im Sohar, dem mystischen Tora-Kommentar, für die endzeitliche Erlösung des Grabes vorgesehenen Zeitpunkt, zu berühren und der Erzmutter zu verkünden, dass die Weissagung Jeremias wahr geworden sei: „So spricht der Herr: Eine Stimme wird in Rama [bzw.: auf der Höhe] gehört, bitteres Weinen wird; Rachel weint über ihre Söhne, weigert sich, sich über ihre Söhne trösten zu lassen, denn sie sind nicht mehr. So spricht der Herr: Hindere deine Stimme am Weinen und deine Augen am Vergießen von Tränen, denn es gibt einen Lohn für dein Tun, Spruch des Herrn: Sie werden aus Feindesland zurückkehren. Es gibt eine Hoffnung für dein Ende, Spruch des Herrn: Die Söhne werden zurückkehren in ihre Heimat“ (Jer 31,15–17).