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Editorial DOI: 10.14623/thq.2017.1.1-3
Dietmar Mieth
Dieses Thema-Heft ist aus der Arbeit der Kollegforschergruppe (KFG) der Deutschen Forschungsgemeinschaft am Max Weber Kolleg (MWK) der Universität Erfurt1 im Bereich „Mittelalter“ entstanden. In diesem Bereich wirke ich seit 2009 als Fellow. In diesem Zusammenhang ist am MWK die „Forschungsstelle Meister Eckhart“ unter meiner Leitung eingerichtet worden. Bei allen Forschungen waren die gemeinsamen Initiativen mit der „Meister-Eckhart-Gesellschaft“ (MEG) und mit ihren Jahrbüchern, die ich seit 2010 einzeln mit herausgegeben habe, wirksam.2 Beistand für die Untersuchung der „religiösen Bewegungen im Spätmittelalter“ fand ich u. a. durch einen dazu begründeten historischen Arbeitskreis über Erfurt hinaus, den Frau Sabine Schmolinsky mit betreut hat. Darüber hinaus interessierte mich die „religiöse Freiheit“ innerhalb der mittelalterlichen christlichen Gesellschaft.3

Deshalb ist es auch naheliegend, dass zwei von den vier Beiträgen (Casteigt und Connolly) sich unmittelbar mit Meister Eckhart, seiner Lehre und seinen Auseinandersetzungen beschäftigen.4 Meister Eckhart konzipiert insbesondere die Perspektive der religiösen Unmittelbarkeit. Heute nennt man diese Perspektive meist „Mystik“, obwohl Meister Eckhart selbst diesen Ausdruck vermutlich für die negative Theologie des Pseudo-Dionys reserviert hätte. Der Terminus „Mystik“ als Sammelbegriff für eine religiöse Tiefenerfahrung, für die experientiell erfasste „unio“ mit Gott oder auch für die Kontemplationslehre hat sich erst in der Neuzeit5 und dann m. E. auch durch die Rezeption indischer Religiosität im 20. Jahrhundert durchgesetzt. Meister Eckhart ist dann im 19. Jahrhundert als „Mystiker“ entdeckt und rezipiert worden, unter anderem weil er neben philosophischen und theologischem Scharfsinn auch die Einheit mit Gott und besondere „perfectiones generales“ – wie die „Gelassenheit“ – als Lebenskunst lehrte. „Aszese und Mystik“ wurden zu enzyklopädisch zusammenfassenden Begriffen.6

Was „religiöse Individualisierung“ meint und in welchen historischen und aktuellen Diskursen sie betrachtet werden kann, entfalte ich in einem einführenden Beitrag. Aus systematischen Gründen bin ich als theologischer Ethiker an Individualisierung und Selbstbestimmung heute interessiert. Von historischen Fallbeispielen kann man dabei lernen. Die Historikerin und Mediävistin Anneke Mulder Bakker (Groningen), die besonders über religiös lebende „Laien-Frauen“ im Mittelalter gearbeitet hat, führt uns anhand zweier Beispiele in Initiativen ein, die von solchen Frauen inszeniert wurden. Dazu gehört das „Fronleichnamsfest“, das in Lüttich aus dem Zusammenwirken zweier Frauen entstand. Um zwei andere Frauen bildeten sich spirituelle Straßburger Hausgemeinschaften.

Der amerikanische Philosoph John M. Connolly (wie Mulder Bakker als Fellow am MWK) hat über Meister Eckhart das Buch „Living Without Why“ verfasst,7 in welchem er zeigt, wie Eckhart das Leben und Wirken um seiner selbst willen entfaltet. Das Dictum des Bernhard von Clairvaux von „der Liebe, die nur um ihrer selbst willen“ liebt, findet man bei Beatrix von Nazareth und Margarete Porete entfaltet. Eckhart erhebt es bereits in seinen frühen Erfurter Lehrgesprächen8 zum Programm und entwickelt laut Connolly danach eine anti-teleologische, sogar anti-eudämonistische Konzeption, die ihn gelegentlich in die Nähe von Immanuel Kant führt.9 Im Kontext der Individualisierung zeigt seine Betrachtung der Ursündenlehre Meister Eckharts dessen Distanz zu Augustinus und seine Nähe zu Maimonides. Damit wird auch deutlich, wie sehr Eckharts Bevorzugung der individuellen Unmittelbarkeit auf einer göttlichen Bestimmung der menschlichen Natur beruht. Dazu trägt die „incarnatio praeventiva“, wie ich die vorzeitliche Heilsökonomie Gottes nennen würde, erheblich bei.

Die Probleme, die mit Eckhart theologisch entstanden, sind nicht zu harmonisieren. Julie Casteigt berichtet über die Kontroverse in Avignon. Eckhart, der 1326 nach dem öffentlich vollzogenen Kölner Reinigungseid bezüglich der Häresie an den Papst appelliert hatte, stellte sich in Avignon einer Theologen-Kommission, die sogenannte „Voten“ – d. h. thetisch wirkende Auszüge aus seinen Schriften – im Hinblick auf Orthodoxie, aber auch Hinblick auf befürchtete Wirkungen hin untersuchte. Die Autorin legt genau dar, wie die Theologen zu ihren Ansichten kamen, warum sie Eckhart nicht gerecht werden konnten und warum Eckhart seine Ansichten in so steil wirkende Formeln kleidete.

Eines ist gewiss: Eckhart gibt weiterhin zu denken und führt aus erlernten Konventionen heraus. Der derzeitige internationale „Boom“ Meister Eckharts10 beruht nicht nur auf neuen religiösen Bedürfnissen nach seiner „Mystik“. Nach den japanischen Gesamtübersetzungen, ständig ansteigenden Übersetzungsbeständen in Englisch und Französisch ist auch der Weg nach China und Korea geöffnet. Eckhart, der Theologe, als ein „Philosoph des Christentums“, wie ihn Kurt Flasch pointiert hat, bietet eine Fülle von Anregungen für die Theologie.11 Hier in diesem Heft geht es den Autoren freilich um sein hochspekulatives Konzept individueller Spiritualität und um dessen Beziehungen zur wachsenden Laien-Frauen-Bildung im Spätmittelalter. An vielen Punkten können diese Anregungen weiter gedacht und diskutiert werden.



1 | 2009-2017. Leitung: Jörg Rüpke in der ersten Periode mit Hans Joas, in der zweiten Periode mit Martin Mulsow.
2 | Die wissenschaftliche Ausgabe Meister Eckhart schreitet fort, teil durch die Ergänzungen und Neubearbeitungen der lateinischen Werke durch Loris Sturlese, teils durch die Weiterführung der Ausgabe der Deutschen Predigten durch Georg Steer in den neuen Lieferungen zu den Bänden der Deutschen Werke IV, 1 und 2. Vgl. aus der MEG insbesondere die Jahrbücher 6 zu den „Erfurter Rede (2012), Jahrbuch 7 zum „Meister im Original“ (2013), Jahrbuch 8 zur „Religiösen Individualisierung in der Mystik: Eckhart, Tauler und Seuse“ (2014), Jahrbuch 9 zu Sprachbildern und Bildersprache bei Meister Eckhart und in seiner Zeit (2015), sowie Jahrbuch 10 „Meister Eckhart – interreligiös“ (2016). Gewichtige neuere Literatur zu Meister Eckhart ist aus den Beiträgen von Casteigt, Connolly und Mieth in diesem Heft zu entnehmen.
3 | Vgl. Dietmar Mieth/Britta Müller-Schauenburg (Hg.), Mystik, Recht und Freiheit, Religiöse Erfahrung und kirchliche Institutionen im Mittelalter, Stuttgart 2012.
4 | Die Beiträge von Julie Casteigt in Heft 3/2016 und in diesem Heft habe ich aus dem Französischen übersetzt; den Beitrag von Anneke Mulder-Bakker aus dem Englischen.
5 | Vgl. Michel de Certeau, Mystische Fabel, aus dem Französischen von Michael Lauble, mit einem Nachwort von Daniel Bogner, Berlin 2010,31.
6 | Vgl. DSAM: Dictionnaire de spiritualité ascétique et mystique, Paris 1932-1995.
7 | Meister Eckhart´s Critique of the Medieval Concept of Will, Oxford 2014.
8 | Freimut Löser (Augsburg) und ich bereiten eine mittelhochdeutsch/neuhochdeutsche Ausgabe der bisher „Reden der Unterscheidung“ genannten „Erfurter Lehrgespräche“ Meister Eckharts vor.
9 | A.a.O. 211 ff. Zu Eckhart und Kant ist von Connolly eine weitere Studie zu erwarten.
10 | In diesem Zusammenhang ist die meist englischsprachige Reihe „Meister Eckhart, Texts and Studies“, die Markus Vinzent mit einer eigenen Studie über Eckhart „On Detachment“ (2014) eröffnet hat (Übersetzung ins Chinesische unterwegs) und seither in weiteren 5 Bänden in internationaler Zusammenarbeit kontinuierlich fortführt, besonders zu erwähnen. Ferner in „Brills Companions to the Christian Tradition“ als Einführung in den Forschungsstand: Jeremiah M. Hackett, A Companion to Meister Eckhart, Leiden/Boston 2013.
11 | Vgl. Dietmar Mieth, Meister Eckhart, München 2014 (englische Übersetzung in Vorbereitung).

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