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Leseprobe 3 DOI: 10.14623/thq.2015.4.339-360
Michael Theobald
Die paulinische „Charismenlehre“
Ermutigung und Provokation für eine Pastoral von morgen
Zusammenfassung
Wichtige Stimmen sagen, dass Kirche im herkömmlichen Sinne bei uns im Sterben liegt und deshalb neu zu „erfinden“ sei. Angesichts dieser Situation gewinnt die paulinische „Charismenlehre“ besondere Relevanz. An sie gilt es kurz zu erinnern, ihre jüngste, freilich noch ambivalente Wiederentdeckung durch das II. Vaticanum zu würdigen und dann aufzuzeigen, welche Herausforderung es für eine Pastoral von morgen bedeuten könnte, sich in der gegenwärtigen kritischen Situation der Kirche wirklich auf sie einzulassen

Abstract

Important persons are saying that the church in the traditional sense is dying in our part of the world and must thus be “reinvented”. In view of this situation, the Pauline “teaching on charisms” acquires special relevance. It is important to recall this teaching briefly, to appreciate its most recent, though still ambivalent rediscovery by the Second Vatican Council, and then to show which challenges it could represent for a pastoral ministry of the future if one would get involved in it and really open oneself up to it in the current critical situation of the church.

Schlüsselwörter – Keywords
Paulus, Charismen, Praktische Theologie, II. Vatikanisches Konzil
Paul, charisms, practical theology, Second Vatican Council

Wenn wir von Bibelpastoral reden, sagt uns dieses Stichwort zunächst einmal, dass die Pastoral aufgrund ihrer Bestimmung als „Hirtendienst“ an den Menschen insgesamt biblisch inspiriert zu sein hat. Bevor deshalb einzelne pastorale Felder und deren biblische Ausgestaltung ins Blickfeld treten, z. B. die Begleitung von Gruppen auf der Basis gemeinsamer Schriftwahrnehmung (Lectio Divina; Bibliolog etc.) oder Individualseelsorge als biblische Mystagogie in Gestalt etwa von Exerzitien, stellt sich die Frage nach einer Bibelpastoral viel grundsätzlicher auch auf ekklesiologischer Ebene. Virulent wird sie etwa im Rahmen der seit einiger Zeit in Deutschland im Gang befindlichen Neustrukturierung der pastoralen Räume. Die Prozesse, die in unseren Diözesen vor allem aufgrund pastoraler Notstände eingeleitet wurden (Stichwort: „Priestermangel“), laufen derzeit weithin „theologiefrei“ ab, gesteuert insbesondere von pragmatischen und strategischen Überlegungen. Dabei bedürften sie einer begleitenden bibelpastoralen Reflexion, deren Sinn nicht in ihrer nachträglichen Legitimierung bestünde, sondern darin, in Erinnerung an die im Neuen Testament bezeugte Ekklesiogenese Optionen für morgen zu bedenken. Voraussetzung für eine solche Begleitung wäre eine schonungslose Diagnose der gegenwärtigen Situation. Wichtige Stimmen sagen, dass Kirche im herkömmlichen Sinne bei uns im Sterben liegt und deshalb – analog zum Anfang – neu zu „erfinden“ sei. Ohne hier grundsätzlich darüber reflektieren zu können, was das normierende Adjektiv „biblisch“ im Rahmen „bibelpastoraler“ Überlegungen besagt, möchte ich stattdessen ein konkretes Beispiel wählen, die paulinische „Charismenlehre“. An sie gilt es kurz zu erinnern (unter I.), ihre jüngste, freilich noch ambivalente Wiederentdeckung durch das II. Vaticanum zu würdigen (unter II.) und dann aufzuzeigen, welche Herausforderung es für eine Pastoral von morgen bedeuten könnte, sich in der gegenwärtigen kritischen Situation der Kirche auf sie einzulassen (unter III.).

I.

Paulus spricht in zwei seiner Briefe ausführlich und grundsätzlich von „Geistes“- oder „Gnadengaben“ in der Ekklesia, in 1 Kor 12–14 und Röm 12,3–8. Sind 1 Kor 12–14 durch Konflikte in der Gemeinde veranlasst, so ist eine derartige konkrete Veranlassung in Röm 12,3–8 durch Anfragen vonseiten der römischen Ekklesien/Hausgemeinden nicht zu erkennen. Paulus schreibt in Röm 12 seine Ausführungen von 1 Kor 12 auf neuer Reflexionsstufe weiter, ohne dass sie dadurch situationsenthoben würden.

1. Schon die Terminologie ist beachtlich. In Korinth sprachen einige von „Geistesgaben“ = πνευματικά (1 Kor 12,1), und verstanden darunter wohl inspirierte Äußerungen, verbale, z. B. „Weisheits“- (λόγος σοφίας) oder „Erkenntnis-Rede“ (λόγος γνώσεως) (1 Kor 12,8) oder nicht-verbale, ekstatische wie „verschiedene Arten von Zungenrede“ (γένη γλωσσῶν). Paulus bevorzugt die Rede von „Gnadengaben“ = χαρίσματα (1 Kor 12,4), womit er betont, dass, insofern die χάρις allen Glaubenden zuteil wird, sie sich auch bei „einem jedem einzelnen“ (1 Kor 12,11) in Gestalt eines χάρισμα konkretisiert, es sich also nicht um das Privileg eines einzelnen Pneumatikers, sondern um ein unverdientes Geschenk Gottes handelt, das er zuteilt, „wie er will“ (1 Kor 12,11), eben so, wie sich die „Begabungen“ unter den Menschen voneinander unterscheiden. Gerade die Freiheit des göttlichen Wirkens ist Paulus wichtig. Auch überschreitet sein Charismenkatalog die Dimension verbaler Äußerungen und bezieht „Heilungsgaben“ (χαρίσματα ἰαμάτων) (1 Kor 12,9.28.30), „Hilfeleistungen“ (ἀντιλήμψεις) oder „Leitungstätigkeiten“ (κυβερνήσεις) (1 Kor 12,28) mit ein, also Aktivitäten, spontan geleistete wie solche, die auf einer ersten Organisationsebene der Ekklesia angesiedelt sind.

Bereits das darf als Antwort des Paulus auf die korinthischen Konflikte begriffen werden, die wohl durch Pneumatiker und die von ihnen direkt oder indirekt beanspruchte Vorrangstellung ausgelöst wurden. Für Paulus sind im Umgang mit dem hier aufbrechenden charismatischen Individualismus insgesamt folgende Kriterien ausschlaggebend: (1) „Charismen“ sind „Dienste“ (διακονίαι) (1 Kor 12,5), sie müssen also „zum Nutzen“ (πρὸς τὸ συμφέφον) der Orts-Ekklesia ausgeübt (1 Kor 12,7) und dürfen nicht um der eigenen „Erbauung“ (οἰκοδομή) willen gepflegt werden. Grundprinzip ist die „Liebe“ (1 Kor 13) als tätige Hinordnung auf den Anderen. Das Leib-Gleichnis in 1 Kor 12 veranschaulicht das stets labile Zusammenspiel der Einzelnen um des Ganzen willen. – (2) Weil die Charismen allen zugutekommen sollen, ist bei den verbalen (aber auch den nicht-verbalen, handlungsbezogenen) Äußerungen unbedingt auf Vernünftigkeit bzw. Verständlichkeit (d. h. Kommunikabilität) zu achten (1 Kor 14,13–19). Paulus fordert dieses Kriterium ein im Blick auf Fremde, welche die Gemeindeversammlung aufsuchen, sie aber keinesfalls als esoterische Veranstaltung (wie einen Mysterienkult) wahrnehmen sollen (1 Kor 14,20–25). Für die „Glossolalie“ bedeutet das die Notwendigkeit der „Übersetzung“ ihrer Äußerungen (vgl. 1 Kor 12,10.30; 14,13.26–28: ἑρμηνεία, διερμηνεύω), außerdem der „Unterscheidung der Geister“ (διάκρισις πνευμάτων) (1 Kor 12,10; 14,29). – (3) Die Einbindung der Orts-Ekklesia in das im österlichen Kerygma gründende Evangelium hat eine Rangordnung unter den „Gnadengaben“ zur Folge, insofern jede Ekklesia auf dem Fundament apostolischer Verkündigung ruht, die von den Propheten auf die Situation appliziert und von den Lehrern im Blick vor allem auf die Schrift entfaltet wird: „zuerst die Apostel“, sagt Paulus, „zweitens die Propheten, drittens die Lehrer, dann die Kräfte etc.“ (1 Kor 12,28). – (4) Bereits diese Orientierung am Evangelium als Verkündigung der rettenden Gnade Gottes gibt den Charismen ihr Selbstverständnis vor, aber es bedarf 1 Kor 14 zufolge darüber hinaus auch konkreter Regeln, um ihr Zusammenspiel zu ermöglichen. „Denn Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens“ (1 Kor 14,33). Alle Ordnung, alles Kirchenrecht hat seinen Sinn darin, den „Aufbau“ der Orts-Ekklesia dadurch zu ermöglichen, dass keine Geistesäußerung erstickt wird, das Zusammenspiel der Charismen gelingt. Oder anders gesagt: Alle Ordnung dient dazu, der Freiheit des schenkenden Gottes in Jesus Christus Raum zu geben. Es kann eben nicht sein, dass das Kollektiv die Würde und Rechte der einzelnen Glieder erstickt.

2. In Röm 12 zeigt sich die neue Reflexionsebene daran, dass Paulus nicht mehr lokal bedingte Charismen wie „Zungenrede“ oder „Weisheitsrede“ aufführt, sondern nur diejenigen, die für die Versammlung und Organisation der Ortsekklesia unabdingbar sind, also einerseits Prophetie, Dienst (an den Tischen), Lehre und Ermahnung, andererseits Almosenverteilung, Leitung und Krankenfürsorge etc. (Röm 12,6–8). Leiturgia, Martyria und Diakonia gehören danach untrennbar zusammen. Im Vorspann Röm 12,3–5 formuliert Paulus das Kriterium, das für das Gelingen von Ekklesia unabdingbar ist: „Besonnenheit“ oder „Klugheit“ (σωφρονεῖν). Sie äußert sich darin, dass jeder und jede das rechte Maß zu halten weiß, d. h. die von Gott in der Zuteilung der Charismata gesetzten Grenzen nicht überschreitet. Dies betrifft das Zusammenspiel der einzelnen Charismenträger, aber Röm 14f. zufolge auch das Zusammenspiel unterschiedlich geprägter „Hausgemeinden“, für die das ekklesiologische Grundprinzip gilt: „Deshalb nehmt einander an, wie auch Christus euch zur Ehre Gottes angenommen hat“ (Röm 15,7). Auch die Entfaltung der „Charismenlehre“ in Röm 12 ist also situationsbezogen.

3. Die Rezeption (oder auch: Nicht-Rezeption) der paulinischen „Charismenlehre“ in der deuteropaulinischen Literatur bedarf einer kurzen Erwähnung. Wichtig ist hier der pseudepigraphe Epheserbrief (vielleicht aus den 80er Jahren des 1. Jh.s), der in Kap. 4 deutlich an Röm 12,3 anknüpft: „Aber einem jedem von uns wurde die Gnade nach dem Maß der Gabe Christi gegeben“ (Eph 4,7). Auf diesem Hintergrund, den der Autor als ekklesiologischen Bezugsrahmen voraussetzt, nennt er die für die Einheit und den Aufbau der ganzen Ekklesia notwendigen Ämter und macht sie als „Gaben“ des erhöhten Herrn (vgl. Eph 4,8c.11) verständlich: „die Aposteln, die Propheten, die Evangelisten (d. h. Missionare), die Hirten und Lehrer“ (Eph 4,11). Es sind – im benutzten Bild des Leibes gesprochen – die „Gelenke“ des Organismus (vgl. V. 16), durch die er zusammengehalten wird und deren Aufgabe genau darin besteht, seiner Einheit zu dienen und „die Heiligen für die Erfüllung ihres Dienstes zu rüsten“, wie der Autor pointiert in Eph 4,12 sagt. Wenn von daher das kirchliche Dienstamt zu Recht als Amt der Einheit definiert wird, darf nicht unterschlagen werden, dass Einheit nach dem Epheserbrief nicht Konformität, sondern „Einheit durch Vielfalt“ ist, sich beides also gegenseitig bedingt (O. Cullmann).

Die Pastoralbriefe scheinen nur noch ein Charisma zu kennen, das Amts-Charisma (1 Tim 4,14; 2 Tim 1,6). Ihr Anliegen ist zwar insofern begrenzt, als sie keine entfaltete Ekklesiologie beabsichtigen, sondern in der Abwehr heterodoxer Lehrzersplitterung das kirchliche „Aufsichtsamt“ – die ἐπισκοή – in der paulinischen successio zu stärken suchen und Standards für das Amt formulieren – für Presbyter, Episkopos und Diakone. Aber auch mit diesem nur scheinbar begrenzten Ansatz fügen sie sich nicht bruchlos in eine angeblich kontinuierliche paulinische Lehrtradition ein, sondern schlagen im Streit um das paulinische Erbe neue Pflöcke ein. Abgesehen davon, dass sie die Frauen zwar im karitativ-diakonalen Bereich zulassen (vgl. 1 Tim 3,11), sie aber vom öffentlichen Lehr- und Leitungsamt der Ekklesia ausdrücklich ausschließen (1 Tim 2,11–15), verknüpfen sie Lehre und Leitung im Amt des Episkopos und rechnen nicht mehr mit dem spannungsvollen Zueinander von Lehre, Prophetie und Leitungsaufgaben. Freilich „erscheint es zweifelhaft, ob das Ordinationsverständnis der Past die Möglichkeit, ja Notwendigkeit anderer Charismen neben dem einen, besonders hervorgehobenen der Fortsetzung der apostolischen Sendung im Dienst am Wort des Evangeliums prinzipiell ausschließen will“. Dennoch fallen die Zuspitzungen auf, eine Entwicklung, für die das Auseinandertreten von Ortho- und Heterodoxie in der ersten Hälfte des 2. Jh. (aus diesem Zeitraum stammt das Corpus Pastorale) verantwortlich ist, mit der Folge, dass nun das rechte Bekenntnis und das kirchliche Amt zu Identitätsfaktoren des Christlichen werden. Charismatisches Gedankengut, das aufseiten der sog. Gegner der Past zu suchen ist, wird teils ausgegrenzt, teils vom Recht domestiziert. Ist das Corpus Pastorale Teil des biblischen Kanon, stellt sich die hermeneutische Frage, wie damit umzugehen ist.

4. Die Antwort darauf kann nur lauten: historisch-kritisch. Wir haben den klassischen Fall vor uns, dass „kanonische Exegese“ scheitert. Eine solche müsste nämlich nach ihrer eigenen Logik das Corpus Paulinum als kanonisch-verbindliche Schriftensammlung ohne Berücksichtigung der historischen Abfassungsverhältnisse deuten, als intertextuellen Verweiszusammenhang mit 1 Kor 14,34f. und 1 Tim 2,11–15 als Pfeilern, die das Corpus Paulinum im Blick auf die Amtsfrage fundamentieren. Die Verantwortlichen dieser kanonisch gewordenen Briefsammlung werden ihre Glaubensgemeinschaft, die Kirche des 2. Jh.s, genau in diesem Sinne normiert haben wollen; ob ihre Entscheidungen aber für alle Zeiten, also auch für heute und morgen, gelten, wäre nach offen zu legenden theologischen Sach-Kriterien erst noch zu erkunden. Allein eine historisch-kritische Auslegung führt hier weiter: Sie de-konstruiert den Anspruch der Sammlung mit dem Interesse, die Charismenlehre des Paulus kritisch gegen die übergreifende Komposition stark zu machen, was sie kraft diachroner Scheidung und historischer Kontextualisierung der einzelnen Teile der Sammlung auch vermag, verbunden mit einer Freilegung der Interessen im Streit um das paulinische Erbe, die zum Abschluss des Corpus Paulinum durch Einbezug der Pastoralbriefe führten. Das Ziel lautet, durch Bilanzierung von Gewinn und Verlust im Fortgang der Geschichte die theologische Verbindlichkeit des Schriftzeugnisses dort herauszuarbeiten, wo sie ihm nach genau reflektierter Kriteriologie auch zufällt – im Ausschluss der Frauen vom Lehramt, der die „Charismenlehre“ des Apostels tief greifend deformiert, gewiss nicht.

II.

Eine Charismen-Vergessenheit deutet sich, wie gesagt, schon in den Pastoralbriefen an. Dirk Kellner hat in seiner großen Studie „Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie“ die „Marginalisierung der Charismenlehre“ seit der frühen Kirche bis in die Neuzeit hinein nachgezeichnet, aber auch „Impulse“ zu ihrer „Neuentdeckung“ in der Theologie des 19. Jh.s und die „Wiedergewinnung“ ihrer theologischen Relevanz im 20. Jh. dargestellt. Zu Thomas von Aquin verweist er auf H. Urs von Balthasar, der erklärt: „Während bei Paulus die Charismen vorwiegend auf die einzelnen Gemeindeglieder verteilt erscheinen, deren jedes seine Gliedfunktion erhält, sind sie bei Thomas allesamt Funktionen eines einzigen Auftrages“, nämlich der gratia der Lehre. P. Hünermann zufolge sieht Thomas in den „Gnadengaben“ im Unterschied zur rechtfertigenden „Gnade“ „Mittlerdienste“ am Mitmenschen, die ihm helfen, zu Gott zurückzugelangen, und da solche „Mittlerdienste“ jeder und jede ausüben könne, sei die Breite der „Charismenlehre“ gewährleistet. Tatsächlich geschieht solcher „Mittlerdienst“ bei Thomas vor allem durch „Lehren und Überreden“, bleibt also Entfaltung der gratia der Lehre. Die von P. Hünermann aufgedeckte Weite im thomasischen Gnadentraktat wird später in der Regel von einer Engführung des Charismas auf den kirchlichen Amtsträger überlagert, bei der es in der Katholischen Kirche bis zum II. Vaticanum geblieben ist. Die Wiederentdeckung der paulinischen „Charismenlehre“ durch das Konzil kann deshalb nicht hoch genug eingeschätzt werden. Schon Pius XII. hat in seiner Enzyklika „Mystici Corporis“ vom 29. Juni 1943 die Leib-Christi- Ekklesiologie des Paulus rezipiert, vermochte indes Charismen im Gottesvolk nur in besonderen Lebensformen wie der Ehelosigkeit zu entdecken. So blieb es den Konzilsvätern des II. Vaticanum vorbehalten, nach der Vorarbeit maßgeblicher Theologen wie Dominique Chenu, Yves Congar und Karl Rahner den Reichtum der paulinischen Lehre, zumindest partiell, zu rezipieren.

1. Die entscheidenden Texte stehen in der „dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen Gentium“, Nr. 4, 7, 12, 30 und 32f.. Auf sie rekurrieren einzelne „Dekrete“ – Texte gleichsam der zweiten Reihe – jeweils aus ihrer eher spezifischen Perspektive: so das „Dekret über das Laienapostolat Apostolicam actuositatem“ (AA), Nr. 3 + 30, das „Dekret über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens Perfectae caritatis“ (PC), Nr. 7 + 8, das „Dekret über Dienst und Leben der Presbyter Presbyterorum Ordinis“ (PO), Nr. 6, sowie das „Dekret über die missionarische Tätigkeit der Kirche Ad gentes“ (AG), Nr. 4.

2. In der Kirchenkonstitution begegnet das Thema zunächst im eröffnenden Kap.: „Das Mysterium der Kirche“, in der Nr. 4, die im trinitarischen Denkrahmen den pneumatologischen Grund der Kirche aufzeigt; dort heißt es programmatisch: „Der Geist wohnt in der Kirche und in den Herzen der Gläubigen wie in einem Tempel […], unterweist und lenkt (sie) durch die verschiedenen hierarchischen und charismatischen Gaben (diversis donis hierarchicis et charismaticis) und stattet sie mit seinen Früchten aus“ (4,1). Beide, sowohl die hierarchischen als auch die charismatischen Gaben, stammen aus derselben Wurzel, dem Wirken des Geistes, sind im Ursprung also miteinander verknüpft. Das Adjektiv „verschieden“ (diversis) schreibt die Vielfalt beiden Seiten zu. Programmatisch ist dieser knappe Satz deswegen, weil er den späteren Erwähnungen des Themas in der Konstitution ihren pneumatologischen Ort vorgibt.

Die zweite Erwähnung findet sich im Rahmen der im selben Kapitel ansatzweise entworfenen Bilder-Ekklesiologie unter dem Stichwort Kirche als Leib Christi in LG 7,3. Betont wird einerseits unter ausdrücklicher Bezugnahme auf 1 Kor 12,1–11 die für die Auferbauung des Leibes Christi notwendige „Verschiedenheit der Glieder und der Pflichten (diversitas […] membrorum et officiorum)“ und dass es „der eine Geist“ sei, „der seine vielfältigen Gaben gemäß seinem Reichtum und den Erfordernissen der Dienste (secundum divitias suas atque ministeriorum necessitates) zum Nutzen der Kirche austeilt (vgl. 1 Kor 12,1–11)“. Ungesagt bleibt dabei, an welche „Dienstämter (ministerium/ διακονία [1 Kor 12,5])“ hier gedacht ist, an das Weiheamt der Kirche oder – entsprechend dem biblischen Prätext, auf den der Konzilstext ja ausdrücklich verweist – an die „Dienste zum Nutzen der Kirche“ überhaupt. Andererseits heißt es gleich im Anschluss, „unter diesen Gaben“ rage „die Gnade der Apostel heraus, deren Autorität der Geist selbst auch die Charismatiker unterstellt (quorum auctoritati ipse Spiritus etiam charismaticos subdit)“. Dazu wird auf 1 Kor 14 verwiesen, wo in der Tat Paulus am Ende Regeln für ein geordnetes Zusammenspiel der einzelnen geistgewirkten Äußerungen in der Versammlung der Ekklesia formuliert. Aber er verlangt keine Unterordnung der Charismatiker unter seine apostolische Autorität, sondern – vertrauend auf ein von der Gemeinde selbst verantwortetes und reguliertes Zusammenspiel – gegenseitigen Respekt.

Im 2. Kap. der Kirchenkonstitution, überschrieben mit „Das Volk Gottes“, handelt die Nr. 12 – die „Magna Charta einer erneuerten Theologie der Charismen“ (K. Lehmann) – von den charismatischen „Gaben“ des Heiligen Geistes unter dem Stichwort Teilhabe des Gottesvolks am prophetischen Amt Christi (LG 12). Die Gedankenführung entspricht der von LG 7,3: Einerseits gelte, dass der Geist das Gottesvolk nicht nur „durch die Sakramente und Dienste (per sacramenta et ministeria)“ heiligt, sondern dass er 1 Kor 12,11 zufolge „unter den Gläubigen jeglichen Standes auch besondere Gnaden (gratias speciales)“ verteilt. „Durch diese macht er sie geeignet und bereit, für die Erneuerung und den vollen Aufbau der Kirche verschiedene Werke und Pflichten (varia opera vel officia) zu übernehmen gemäß dem Wort: ‚Jedem wird der Erweis des Geistes zum Nutzen gegeben’ (1 Kor 12,7)“ (LG 12,2). Hier überwölbt der Terminus ministerium nicht die Vielfalt der Charismen (wie anscheindend in LG 7,3), sondern diese stehen als „besondere Gnaden“ bzw. „Werke und Pflichten“, die „von besonderer Leuchtkraft oder aber schlichter und allgemeiner verbreitet“ sein können, dem sakramentalen Dienstamt gegenüber, das aus dem Bereich der Charismen herausgenommen ist – ganz auf der Linie des zitierten programmatischen Satzes von Nr. 4. Dem entspricht das Andererseits, das auf dem Fuße folgt, wenn es heißt: „Das Urteil über ihre Echtheit und ihren geordneten Gebrauch (iudicium de eorum genuinitate et ordinato exercitio) steht bei jenen, die in der Kirche die Leitung haben und denen es in besonderer Weise zukommt, den Geist nicht auszulöschen, sondern alles zu prüfen und das Gute zu behalten (vgl. 1 Thess 5,12 und 19–21)“ (LG 12,2 finis). Was in LG 7 dem Apostel, wird hier also dem kirchlichen Amt zugeschrieben und dahingehend konkretisiert, dass diesem vorbehalten ist zu „urteilen“, was überhaupt als „genuines“ Charisma gelten kann und was nicht, sowie die Rechtshoheit, die Struktur vorzuschreiben, in denen Charismaen sich entfalten dürfen (iudicium de ordinato exercitio) – freilich auch entfalten sollen, wie die nachgeschobene Anspielung auf 1 Thess 5,19 anmahnt.

Das „Dekret über das Laienapostolat“ greift in seinem 1. Kap. „Die Berufung der Laien zum Apostolat“ den Absatz LG 12,2 mit leichten Modifikationen auf (AA 3), verstärkt dabei den Gedanken der Freiheit des die Charismen zuteilenden Geistes, die durch das Kirchliche Amt nicht behindert werden darf, um zugleich auch wieder den Gedanken der Unterordnung der Charismen unter das kirchliche Amt einzuschärfen. Der Verweis auf 1 Thess 5,12.19–21 in beiden Dokumenten ist kritisch zu sehen: „[D]ie zitierten paulinischen Mahnungen (gelten) der Gemeinde in Thessaloniki als ganzer, nicht zuerst oder gar allein ihren Vorstehern, wie Paulus ja auch prophetische Charismen in Korinth von allen beurteilt haben will (vgl. 1 Kor 14,29)“.

Sind die bisher zitierten Texte von der Sorge um die Unterordnung der Charismen unter das kirchliche Amt bestimmt, so schlägt das „Dekret über Dienst und Leben der Presbyter“ (PO) in seinem 2. Kap.: „Der priesterliche Dienst“, andere, eher pastorale Töne an, wenn es diesen vom paulinischen Grundgedanken der οἰκοδομή, der „Auferbauung der Kirche“, her als Dienst an der Einheit definiert (Nr. 6)33. So heißt es in Nr. 6,2: „Es obliegt den Priestern als Erziehern im Glauben, selbst oder durch andere dafür zu sorgen, dass jeder Gläubige im heiligen Geist angeleitet wird zur Entfaltung seiner persönlichen Berufung nach den Grundsätzen des Evangeliums, zu aufrichtiger und tätiger Liebe und zur Freiheit, zu der Christus uns befreit hat […]. Die Christen sollen auch gelehrt werden, nicht nur sich zu leben, sondern, gemäß den Erfordernissen des neuen Gesetzes der Liebe, mit der Gnadengabe, die jeder empfangen hat, einander zu dienen (Anm.: Vgl. 1 Petr 4,10ff.); so sollen alle ihre Aufgaben in der Gemeinschaft der Menschen christlich erfüllen“. Und in Nr. 9,2 wird den Priestern ans Herz gelegt: „Indem sie die Geister prüfen, ob sie aus Gott sind [vgl. 1 Joh 4,1], sollen sie die vielgestaltigen Charismen der Laien, sowohl niedrige als auch höhere, mit Glaubenssinn aufdecken (cum sensu fidei detegant), mit Freude anerkennen (cum gaudio agnoscant), mit Sorgfalt fördern (cum diligentia foveant)“. Hier wird die Aufgabe des kirchlichen Dienstamtes vor Ort gerade positiv von der Sorge um die Entdeckung und Entfaltung der Charismen bei den Einzelnen in der Gemeinde her bestimmt.

Wenn es am Ende von Nr. 6,2 heißt, dass „so alle [s.c. Laien] ihre Aufgaben in der Gemeinschaft der Menschen (in communitate hominum) christlich erfüllen“, dann verrät diese Passage in sehr bezeichnender Weise, dass das Konzil das Apostolat der Laien vornehmlich auf ihren Weltdienst gerichtet sieht. Das dem Thema „Die Laien“ gewidmete 4. Kap. der Kirchenkonstitution bestätigt diese Einschätzung: „Den Laien ist der weltliche Charakter ganz besonders zu eigen“ (LG 31,2; vgl. auch AA 2.4.7.29). Ansätze zu einer Theologie der Laien (jenseits ihres „Weltdienstes“) in der Kirche gibt es kaum (vgl. aber LG 33). Aus biblischer Perspektive, der die Unterscheidung von Laien und Klerikern fremd ist, wäre es P. Hünermann zufolge erforderlich gewesen, „die Charismenlehre aus der Sicht des Volkes Gottes als eines eigenständigen, in der Geschichte handelnden Subjektes“ zur Darstellung zu bringen.

Zu Kap. 4 der Kirchenkonstitution sei noch nachgetragen, dass hier eingangs von LG 30 ein weiteres Mal die Aufsichtspflicht des kirchlichen Amtes über die Charismen herausgestellt37, in LG 32,1 die „Mannigfaltigkeit (varietas)“ der Glieder am Leib Christ (Röm 13,4f.) und in 32,2 unter Bezug auf Gal 3,28 betont wird, dass es „keine Ungleichheit aufgrund von Rasse und Volkszugehörigkeit, sozialer Stellung oder Geschlecht“ in der Kirche geben dürfe. LG 32,3 proklamiert die „wahre Gleichheit (aequalitas) in der allen Gläubigen gemeinsamen Würde und Tätigkeit zum Aufbau des Leibes Christi“ – unbeschadet des „Unterschied(s) (distinctio), den der Herr zwischen den geweihten Amtsträgern und dem übrigen Gottesvolk gesetzt“ habe, der aber eine tiefere „Verbundenheit (coniunctio)“ einschließe, „da ja die die Hirten und die anderen Gläubigen durch gemeinsame Bezogenheit aneinandergebunden“ seien.

3. Der einzige Konzilstext, der die pauschale Rede von „besonderen Gnadengaben“ oder Charismen konkretisiert, ist das „Dekret über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens“ (PC). Es ordnet „die gänzlich auf die Kontemplation hin geordneten Institute“ (PC 7) und „die Kleriker- und Laieninstitute, die sich mannigfachen apostolischen Aufgaben widmen“ (PC 8), den in Röm 12,4f. und 1 Kor 12,4 genannten „Gnadengaben“ zu, die jeweils ihre eigene, im Leib Christi unverwechselbare Aufgabe innehaben. Wenn sich das Konzil ansonsten einer Konkretion enthält, dann kann das auch positiv gedeutet werden, nämlich als Ansporn, für den Anruf des Geistes je nach kirchlicher Situation sensibel zu werden. Dabei geht es auch und sehr wesentlich um die Inkulturation des Evangeliums in sehr verschiedenen Kontexten, also um Prozesse, die zu gestalten der „Glaubenssinn“ vor Ort der entscheidende Kompass sein sollte.

4. Wenn im umfangreichen Textcorpus des Konzils „dem Thema der Charismen nur eine untergeordnete Rolle gegenüber dem Rekurs auf das ‚gemeinsame Priestertum’“ bleibt, so ist der Umstand zu würdigen, dass das Konzil die paulinische Lehre überhaupt aufgegriffen hat – und das gegen den anfänglichen Widerstand einer Minorität, welche die Rede von Charismen für gefährlich hielt und meinte, dass sie nur Verwirrung stifte; Charismen habe es auch nur in der Frühzeit der Kirche gegeben.

Der wichtige Schritt, den das Konzil mit seiner Paulusrezeption gegangen ist, war freilich „nur ein erster […] und ein zögerlicher dazu“. Aus biblischer Perspektive sind die Transformationen zu nennen, denen das Konzil die paulinische „Lehre“ unterworfen hat. Ist Gemeindeleitung (κυβέρνησις) bei Paulus ein Charisma unter anderen, so nimmt das Konzil das kirchliche Amt aus der Kategorie der „besonderen Gaben“ heraus, um es ihnen gegenüber zu stellen. Freilich betont es auch, dass das ministerium und die gratiae speciales „alle in ihrer Weise zum gemeinsamen Werk einmütig zusammenarbeiten“ (LG 30,1). Doch erklärt es das ministerium gegenüber den „besonderen Gnadengaben“ für extraterritorial und erhebt es – gegen Paulus –zur richterlichen Instanz, die darüber zu befinden habe, was überhaupt als „besondere Gabe“ in der Kirche gelten kann und was nicht. Die Gefahr, dass damit das Amt den in den Gnadengaben wirkenden Geist zum Erlöschen bringt, wird gesehen, aber nicht gebannt.

Das daraus sich ergebende Problem ist die bis heute ungelöste Frage, wie kirchliches Recht und Charisma sich zueinander verhalten und wie das Recht theologisch konzipiert sein muss, damit die Entfaltung der Charismen als Niederschlag des Geistes nicht behindert, sondern gefördert wird und im Zusammenspiel der einzelnen Glieder der Kirche auch wirklich gelingen kann.

Was die Sonderstellung des kirchlichen Amts betrifft, so ist deren Berechtigung freilich vom Zeugnis des Corpus Paulinum insgesamt her zu beurteilen. Wenn der Autor des Epheserbriefs die „Gelenkfunktion“ der kirchlichen Ämter („Evangelisten“; Hirten und Lehrer“) herausstellt (vgl. Eph 4,16), geht es ihm um ihre spezifische und unvertretbare Bedeutung als Ämter der Einheit der Ekklesia um des Aufbaus des Leibes willen, ohne dass er deshalb die Vielfalt der Charismen abblendet (vgl. Eph 4,7). Bald wird auch das Amt der Presbyter und des Episkopen durch ihre ordentliche Einsetzung unter Gebet und Handauflegung in einem amtlichen Sinne prägnant bestimmt (vgl. das Corpus Pastorale), was ökumenisch, wie die jüngere Rezeption der Confessio Augustana zeigt, durchaus konsensfähig sein sollte. Beachtlich ist die ansatzweise pneumatologische Begründung des kirchlichen Amtes im Corpus der Konzilstexte, durch die es mit dem Wirken des Geistes in seinen „besonderen Gaben“ von der Wurzel her verbunden wird. Was dies für seine mögliche „Flexibilisierung“ und seine zeitgemäße Weiterentwicklung unter den Bedingungen des 21. Jh.s bedeutet, ist eine theologisch wie praktisch erst noch zu bewältigende Aufgabe.

III.

Wer heute versucht, die paulinische „Charismenlehre“ als Herausforderung für eine biblisch inspirierte Pastoral von morgen neu durchzubuchstabieren, wird sich nicht nur der prekären Situation bewusst sein, den rechtlich fixierten status quo partiell auch überschreiten zu müssen, sondern auch darauf vertrauen, dass allein ein Vorausdenken sterilen Stillstand verhindert. Schlupfwinkel im Kirchlichen Recht aufzuspüren wird auf Dauer kein Ausweg sein. Zugleich darf er dankbar auf all das Gute verweisen, das es in unseren Gemeinden an Aufbrüchen gibt. Daran anknüpfend wird es in Zukunft darum gehen, Mut zu machen, um mehr zu wagen. In diesem Sinne möchten die folgenden Hinweise verstanden werden.

1. Zum Verhältnis von Recht und Charisma als massivem nachkonziliaren Problem sei zunächst grundsätzlich bemerkt: Paulus will die Freiheit des Gottesgeistes, der die Gaben zuteilt, „wie er will“ (1 Kor 12,11; vgl. auch Röm 12,3), also auch das Charisma der Gemeindeleitung, bzw. „Beweise d. Fähigkeit z. Führung in der Gemeinde“ (κυβερνήσεις), nicht durch Geschlecht oder soziale bzw. kulturelle Herkunft der jeweiligen Person begrenzt und bedingt sein lassen. Auch liegt ihm für die Gestaltung der gottesdienstlichen Vollversammlung der Ekklesia alles daran, dass das Wort Gottes sich in seinem ganzen Reichtum („Prophetie“; „Lieder“; aber auch übersetzte „Zungenrede“ etc.) Gehör verschafft. Sein leitendes Prinzip ist die Souveränität des Gottesgeistes, auf dessen Wirken er baut. Wenn die nachkonziliare „Instruktion zu einigen Fragen über die Mitarbeit der Laien am Dienst der Priester“ von 1997 die Homilie in der Eucharistiefeier per Gesetz Laien nicht mehr gestattet (Art. 3 § 1), tatsächlich in vielen Gemeinden hierzulande aber Laien durch ihre Predigt nach dem Evangelium unsere Gottesdienste ungemein bereichern, vor allem wenn sie ihre konkreten Erfahrungen z. B. im diakonal-sozialen, im ärztlichen Bereich etc. in die Auslegung der Schrift miteinbeziehen, erleben wir nicht nur einen rechtlichen Konflikt (der faktisch unter den Teppich gekehrt wird), sondern zuerst einmal einen geistlichen Aufbruch in und trotz aller Schranken. Wenn es bei uns eine pastorale Not gibt, dann nur deshalb, weil wir die Charismen nicht zulassen.

Von einem geistlichen Aufbruch in unserer Kirche erzählt auch die Geschichte der Berufsgruppen Pastoral- und Gemeindereferenten, deren Einrichtung nach dem Konzil – ermöglicht durch die ihm eigene weitere Perspektive auf das ministerium – vielen jungen Menschen den Weg in den pastoralen Dienst ebnete und noch ebnet, und zwar nicht zuletzt deswegen, weil sie die konkreten Zulassungsbedingungen zum Amt nicht erfüllen mochten und konnten, aber dennoch pastoral tätig sein wollten. Eigentlich handelt es sich bei diesen Tätigkeitsfeldern im pln. Sinne um κυβερνήσεις, Aufgaben der Gemeindeleitung, was auch so wahrgenommen, aber nicht oder nur unter Vorbehalten so genannt werden darf.

2. Für die paulinische Mission war das Ortsprinzip von großer Bedeutung, und dies in verschiedener Hinsicht. Wenn der Apostel in den wichtigen Städten einer Provinz das Evangelium verkündete, wenn er es in die sozial kleinste, aber wichtigste Organisationseinheit der Polis, nämlich das „Haus“, einpflanzte, dann immer in der Überzeugung, dass das von ihm proklamierte Evangelium die vorgegebenen sozialen Relationen im Raum der Ekklesia von innen her verwandelt und so „Neue Schöpfung“ werden lässt. Für die spätere Kirche auf ihrem Weg von der „hausweise“ organisierten Ekklesia zu den Ortskirchen, Kirchensprengeln und „Diözesen“ blieb dieses Prinzip der Beheimatung in den gegebenen sozialen und politischen Bezügen samt menschlich überschaubaren und bewohnbaren Räumen immer wichtig, und es ist zu fragen, was dieses Ortsprinzip für eine Pastoral von morgen bedeutet.

Ein erstes ergibt sich aus dem Vertrauen des Apostels in die Charismen vor Ort. Er war gemäß 1 Kor 12,27f. überzeugt davon, dass Gott jeder Ortskirche („ihr seid Leib Christi und einzeln genommen [dessen] Glieder …“) die Gaben und Charismen auch zuweist und schenkt, die sie benötigt, der heilige Geist sie nicht im Stich lässt. Nicht umsonst heißt es im „Dekret über den Dienst und das Leben der Presbyter“, PO 3: „Die Priester werden aus der Reihe der Menschen genommen und für die Anliegen der Menschen bei Gott bestellt, um Gaben und Opfer für die Sünden darzubringen; allen begegnen sie deshalb als ihren Brüdern“ (mit Verweis auf Hebr 5,1). „Aus den Menschen“ – „für die Menschen“! Haben wir aus dieser Perspektive schon einmal darüber nachgedacht, wie wichtig es ist, dass die Menschen, die bei uns den Dienst der Gemeindeleitung innehaben, auch aus unseren Gemeinden und damit den gesellschaftlichen Kontexten kommen, mit denen sie mentalitätsmäßig verbunden sind? Ohne unsere ausländischen Priester, die etwa in der Diözese Rottenburg-Stuttgart bald ein Drittel des hauptamtlich tätigen Klerus ausmachen, wäre die herkömmliche „Seelsorge“ längst zum Erliegen gekommen. Viele begreifen unsere Gemeinden als Missionsgebiet. Aber entziehen sie ihnen damit nicht das Vertrauen – das Vertrauen in den Reichtum der Geistesgaben in ihrer Mitte, die sich entfalten würden, wenn es die rechtlichen Vorgaben erlaubten? Aber das apostolische Ortsprinzip besagt noch etwas anderes, nämlich Überschaubarkeit. Die Beheimatung des Evangeliums in sozial angemessenen Räumen – einst Dörfer, Marktflecken, Stadtviertel und Bezirke – erfordert auch heute eine entsprechende Raum-Planung für die Gemeinden (die verwaltungstechnische Bezeichnung „Seelsorgeeinheit“ kommt einem nur schwer über die Lippen) auf der Basis zumindest der beiden folgenden Kriterien: Angleichung an die gegebenen sozialen wie politischen Räume und Überschaubarkeit. Erst dies macht es auch möglich, dass die Gemeinden Subjekte werden, keine Objekte einer Seelsorge mehr von oben – und „Mittelpunkts-Kirchen“ nicht zu Servicestationen verkommen, die mit dem Auto anzufahren sind.

3. Entscheidend für eine Subjekt-Werdung von Gemeinde ist die Förderung der bereitliegenden Charismen. Dabei handelt es sich nicht um Fähigkeiten, die ein Mensch bisher noch nicht hatte. Aus einer Fähigkeit bzw. Begabung wird ein Charisma, wenn es zum Aufbau der Gemeinde eingebracht wird bzw. dient. Das geht aber nur, wenn alle, die sich einbringen, auch Mitverantwortung übernehmen, wobei Mitverantwortung heißen muss: Mitentscheiden. Das verändert die Gremien auf allen Ebenen: denen des Bistums, des Dekanats und der Pfarrebene. Die bislang nur Beratungsfunktionen hatten, erhalten aufgrund ihrer eigenen Kompetenzen den Amtsträgern gleichberechtigte Entscheidungsvollmachten.

Der Dienst der Leitung aber besitzt seine Pointe in der Begleitung, Ermunterung und Weckung von Begabungen und Fähigkeiten im Sinne des paulinischen Oikodome-Prinzips für alle wesentlichen Bereiche des Gemeindelebens: der Verkündigung durch Wort und Tat. Die Kunst der Hauptamtlichen wird sein, neue Begabungen nicht zu übersehen, sondern zu entdecken und zuzulassen. Vom Pfarrer zum Team, vom Team zur Gemeinschaft.

4. Dabei lauern natürlich auch Gefahren, wie schon in der Gemeinde von Korinth. „Cliquenbildung“ (vgl. 1 Kor 1,10–17), Einfluss einiger weniger Familien oder Einzelner auf den Gang des Gemeindelebens etc.: Hier erweist sich die Kraft des Amtes als eines Dienstes an der Einheit der Gemeinde.

Wenn heute angesichts des sog. „Priestermangels“ gerne der Einsatz von Ehren- und Hauptamtlichen beschworen wird, gilt es der Gefahr ihrer Überforderung zu wehren. Es wird immer welche geben, die weder Kraft noch Zeit haben, eine ihren Fähigkeiten entsprechende Verantwortung zu übernehmen. Jeder ist „willkommen nach dem, was einer hat, nicht nach dem, was er nicht hat“ (2 Kor 8,12). Nur so wird eine Gemeinde zum Raum freimachender Gnade.

Es gibt noch eine andere Gefährdung – entsprechend der sehr pluralen Situation hierzulande. Viele Gläubige sind nach wie vor priesterfixiert und sehr konservativ, während nachdenkliche Menschen vielfach wegbleiben oder resignieren, weil in den Gemeinden keine Freiheit, keine Begeisterung, kein Aufbruch gewollt oder zu spüren ist.

5. Das paulinische Prinzip, dass nicht jeder alles können muss, nicht jeder das Ganze repräsentiert (vgl. 1 Kor 12,14ff.), hat auch auf kollektiver Ebene Bedeutung. Flächendeckende „Seelsorge“ entpuppt sich immer mehr als Illusion. Schwerpunkte in der Gemeindebildung entsprechend den sozialen und gesellschaftspolitischen Erfordernissen und „Brennpunkten“ der Lebensumwelt werden immer notwendiger. Jede Gemeinde hat ihr besonderes Profil zu entdecken, wenn sie die Frage stellt: Wo werden wir in unserem Stadtviertel etc. besonders gebraucht? Es gibt eine Korrelation von Gemeinde und Gemeinwesen. Voraussetzung dafür ist eine grundsätzliche Offenheit für alle Menschen guten Willens, für Andersgläubige, Suchende und Zweifelnde, für Arme und Notleidende, für Menschen mit Krankheiten und Behinderungen, für Fremde, kurz für das Gemeinwesen, dem die Gemeinde zugehört, dem es je auf ihre Weise zu dienen hat.

6. Wenn dies alles in Gestalt von vielfältigen sprachlichen Äußerungen auch Raum in den gottesdienstlichen Versammlungen findet, werden die Christen, ihre Gemeinden auch wieder neu sprachfähig. Neue Lieder, neue Gebete, neue Sprache! Mag die Art und Weise, wie in Gebeten und Predigten von Gott gesprochen wird, einem modernen Denken oft genug nicht standhalten, in dem Maße die Sorgen, Hoffnungen und Freuden von den Gemeindemitgliedern selbst in die Liturgie eingebracht werden, wird auch die gottesdienstliche Sprachwelt erfahrungsgesättigt. Hierhin gehört auch die Verzahnung von Liturgie und Diakonie, welche deren Ästhetisierung im Sinne einer kultischen Scheinwelt ohne Realitätsbezug vereitelt. Was eine Gemeinde im Namen Jesu auszeichnet, ist ihre Kultur der Liebe und Barmherzigkeit und ihr gemeinsames Ringen um eine bessere Welt.

IV.

Sich auf die paulinische „Charismenlehre“ einzulassen, ist gefährlich. Sie bietet keine spirituelle Spielwiese, das erkannten schon die Konzilsväter, die vor ihr warnten. Auch Bibelpastoral darf sich nicht aus den derzeit virulenten ekklesiologischen Fragen zurückziehen, sie muss sich auf die Prozesse heutiger Ekklesiogenese aus dem Geist der frühen Kirche einlassen, hat sie aktiv zu begleiten und mitzugestalten. Bibelpastoral kann deshalb auch nicht heißen, für bestehende zementierte Strukturen den geistlichen „Überbau“ zu bieten, kirchendisziplinäre Unbeweglichkeit zu bemänteln. Geistliche Schriftlesung ist ein gefährliches Unternehmen, von dem wir noch nicht wissen, wohin es uns führen wird, was der auch heute wirkende Geist Gottes morgen mit uns vorhat.

Anhang: Synopse von LG 12,2 und AA 3,4

  LG 12,2 AA 3,4
 1 Zum Vollzug dieses Apostolates

 2


Derselbe Heilige Geist
heiligt außerdem nicht nur das Gottesvolk durch die Sakramente und die Dienstleistungen,

schenkt der Heilige Geist,
der ja durch den Dienst des Amtes und durch die Sakramente die Heiligung des Volkes Gottes wirkt,
 3
er führt es nicht nur und bereichert es mit Tugenden,
 
 4 
den Gläubigen auch noch besondere Gaben (vgl. 1 Kor 12,7);
 5
sondern „teilt den Einzelnen, wie er will“ 1 Kor 12,11), seine Gaben aus
„einem jeden teilt er sie zu, wie er will“
(1 Kor 12,11),
 6
und verteilt unter den Gläubigen jeglichen Standes auch besondere Gnaden (gratias speciales).
 
 7
Durch diese macht er sie geeignet und bereit,
 
 8 
damit „alle, wie ein jeder die Gnadengabe empfangen hat, mit dieser einander helfen“
 9 
und so auch selbst „wie gute Verwalter der mannigfachen Gnade Gottes“ seien (1 Petr 4,10)
 10
für die Erneuerung und den vollen Aufbau der Kirche verschiedene Werke und Dienste zu übernehmen gemäß dem Wort:
zum Aufbau des ganzen Leibes in der Liebe (vgl. Eph 4,16).
 11
„Jedem wird der Erweis des Geistes zum Nutzen gegeben“ (1 Kor 12,7).
 
 12
Solche Gnadengaben, ob sie nun von besonderer Leuchtkraft oder aber schlichter nd allgemeiner verbreitet sind,
Aus dem Empfang dieser Charismen, auch der schlichteren,
 13
müssen mit Dank und Trost angenommen werden, da sie den Nöten der Kirche besonders angepasst und nützlich sind.
 
 14
Außerordentliche Gaben soll man aber nicht leichthin erstreben.
 
 15
Man darf auch nicht vermessentlich Früchte für die apostolische Tätigkeit von ihnen erwarten.
 
 16 
erwächst jedem Glaubenden das Recht und die Pflicht,
 17 
sie in Kirche und Welt zum Wohl der Menschen und zum Aufbau der Kirche zu gebrauchen.
 18 
Das soll gewiss mit der Freiheit des Heiligen
Geistes (in libertate Spiritus Sancti)  … ... geschehen,
 19 
der „weht, wo er will“ (Joh 3,8),
 20 
zugleich (et simul) aber auch in Gemeinschaft
mit den Brüdern in Christus (in communione cum fratribus in Christo),
 21 
besonders mit ihren Hirten (maxime cum
pastoribus suis).
 22
Das Urteil über ihre Echtheit und ihren geordneten Gebrauch steht bei jenen, die in der Kirche die Leitung haben

Ihnen steht es zu, über Echtheit und geordneten Gebrauch der Charismen zu urteilen,
 23
und denen es in besonderer Weise zukommt, den Geist nicht auszulöschen, sondern alles zu prüfen und das Gute zu behalten (vgl. 1 Thess 5,12.19–21).

natürlich nicht
um den Geist auszulöschen,
sondern um alles zu prüfen und, was gut ist, zu behalten (vgl. 1 Thess 5,12.19–21).

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