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Leseprobe 1
Ottmar Fuchs
Caritaseinrichtungen als Orte interreligiöser Praxis

1. Zur Situation

Wenn in kirchlich-karitativen Beratungsdiensten zunehmend Menschen aus dem muslimischen (in Deutschland vor allem türkischen) Bereich Rat suchen, wenn zum Beispiel in Stuttgart katholische Kindergärten bis zu 80 % muslimische Kinder haben, wenn überhaupt in fast allen karitativen Einrichtungen der Anteil nichtchristlicher Klientele rapide ansteigt, stellt sich die Frage nach dem christlichen und katholischen Profil solcher Einrichtungen in einer multireligiösen Gesellschaft in einer höchst dringlichen Weise. Zumal gläubige Menschen anderer Religionen nicht selten katholischen Einrichtungen (Schulen oder Kindergärten) gerade wegen ihrer Glaubens- und Wertebindung hohes Vertrauen entgegenbringen. Im Caritasbereich verwirklicht sich dabei ein sehr vitaler, für viele unvermeidbarer Kontakt in ganz bestimmten Krisen und Grenzsituationen von Geburt, Krankheit, Armut, Ausgrenzung und Tod.

Während der interreligiöse Dialog in seinen verschiedenen Formen der freien Entscheidung der Beteiligten überantwortet ist (und deshalb als moralische Forderung eingeschärft wird), befinden wir uns bei der interreligiösen Praxis im Wohlfahrtsbereich auf der Basis unvermeidbarer Notwendigkeit. Oder wie ein Verantwortungsträger im Caritasverband formuliert hat: »Die entscheidende interreligiöse Musik spielt in der Caritas!« Es handelt sich gewissermaßen um die »Materia proxima« interreligiöser Begegnung. Während der interreligiöse Dialog erst zum Bedürfnis gemacht werden muss, geschieht hier die interreligiöse Praxis von vornherein um vitaler Bedürfnisse willen. Theologisch gesehen wird dabei in einer ganz praktischen Weise »Lumen gentium « 1 mit »Gaudium et spes« 1 verbunden: nämlich die Gabe und Aufgabe der Kirche, Zeichen und Werkzeug der Liebe Gottes und dieser Welt zu sein, konkret damit zu vernetzen, den Sorgen und Ängsten der Menschen im eigenen Bereich begegnen zu wollen.

Es ist nun keine Frage, weder für die Caritaseinrichtungen noch für die entsprechende Ekklesiologie, dass sich die diakonische Seite der Kirche allen Menschen zuwendet, gleichgültig aus welchen sozialen, kulturellen und religiösen Bereichen sie kommen. Im multireligiösen Zusammenhang stellt sich gerade deswegen die Frage: wie kann dies möglichst wirkungsvoll und mit aller Fachlichkeit, aber auch mit aller entsprechenden nötigen Motivation geschehen? Benötigt nicht eine katholische Beratungseinrichtung für muslimische NutzerInnen auch eine professionelle türkische Beratung, die dann dem religiösen und kulturellen Ort der zu Beratenden gerecht wird? Kann nicht die Einsicht von »Nostra aetate«, dass es Gottes Heil auch in anderen Religionen gibt, im Sinne von »Gaudium et spes« so gelesen werden, dass Gläubige anderer Religionen auch heilend tätig sein können, so dass mit ihnen im Sinne der Kooperation aller Menschen guten Willens (der aus christlicher Perspektive der Wille Gottes ist) auch tatsächlich zusammengearbeitet werden kann?

2. Zwischen Abgrenzung und Entgrenzung

Zur Beantwortung dieser Frage ist aus theologischer Perspektive die elementare Unterscheidung zwischen Kirche und Reich Gottes ernst zu nehmen, genauso wie die eben so elementare gegenseitige Bezogenheit von Kirche und Reich Gottes. In den Evangelien verbindet Jesus den Glauben an Gott mit einer ganz bestimmten helfenden, heilenden und solidarischen Praxis. Wo immer beides wirklich wird, spricht er vom Reich Gottes: wenn er mit dem Finger seiner Hand die Menschen von Zwangsverhältnissen erlöst, dann zeigt sich darin etwas von der Macht Gottes in der Geschichte (vgl. Lk 11,20). Orientiert sich die katholische Identität an diesem Christus, dann nimmt sie diese beiden Aspekte des Reiches Gottes wahr, nicht zuletzt auch in dieser Reihenfolge: nämlich die unausweichlich notwendige solidarische Tat zuerst zu setzen und derart die eigene Rede von Gott praktisch eindeutig werden zu lassen.

Die Kirche ist für beides unbedingt nötig: für dieses Handeln genauso wie dafür, es mit der Rede von Gott in Verbindung zu bringen und ihm so eine ins Unendliche Gottes selbst hineinreichende Dignität zuzusprechen. Ohne die Verkündigung könnte die buchstäblich theologische Bedeutung zwischenmenschlichen Handelns gar nicht gedacht und geglaubt werden, könnte auch nicht jenes Gottvertrauen entstehen, das sich von Gott her für die Menschenliebe unerschöpflich beschenkt weiß. Die Kirche rettet ihr Profil in dieser eigenartigen Dialektik und Spannung: zwischen der Abgrenzung des eigenen Glaubens vom Glauben Anderer einerseits und der in diesem Glauben selber begründeten und aufgegebenen Entgrenzung der Fürsorge für alle andererseits (nicht im Sinne einer faktischen Überforderung, sondern einer prinzipiellen Öffnung an den möglichen, gegebenen und vor allem notwendigen Orten).

Von daher schwächt weder die diakonische Entgrenzung das katholische Profil der Kirche, noch stärkt allein die Konzentration oder auch Reduktion auf die Glaubensgemeinschaft das katholische Profil, obgleich letztere Strategie viel einfacher erscheint, übrigens auch, von bestimmten marketingorientierten soziologischen Alleinstellungsmerkmalen von Religionen ausgehend, erfolgreicher. Denn diakonische Entgrenzungen bringen immer Turbulenzen zwischen innen und außen mit sich, während verschärfte Abgrenzungen im Glaubensbereich gegenüber einer ohnehin schon diffusen religiösen Gemengelage in der Gesellschaft Klarheit und Sicherheit bringen. Wenn man die in fast allen Kirchen des Christentums zahlenmäßig explodierenden fundamentalistischen Anteile sieht, könnte man fast sagen: Kirche und Caritas setzen auf das erfolgreichere Pferd, wenn sie sich strikt an die Glaubensgrenzen halten, mit einer religiös fundierten komplexitätsreduzierenden Einteilung der Welt bis in das Jenseits hinein und so die Unübersichtlichkeit und raschen Wandlungen in und zwischen den Gesellschaften kompensierend. Bemühen wir hier dagegen die schwierigere Reich-Gottes-Perspektive, dann kann gerade die Einstellung von muslimischen Fachkräften in der Caritas der nötige Schritt sein, das katholische Profil in einem sich rapide verändernden multireligiösen Kontext auf der Handlungsebene dieser Institutionen zu erhalten, und zwar in zweifacher Hinsicht: einmal um die Qualität des caritatisven Dienstes muslimischen NutzerInnen gegenüber zu steigern, zum anderen um die caritativen Einrichtungen (auch ohne muslimische NutzerInnen) nicht wegen Personalmangels schließen zu müssen.

3. Diakonie als Basis interreligiöser Spiritualität

Wenn die Kirche (wie in Deutschland) über umfangreiche institutionelle Gegebenheiten verfügt (insbesondere im Caritasverband und in der Obhut entsprechender Ordensgemeinschaften), kann sie diese nicht leichtfertig aus der Hand geben, auch wenn die darin aufzunehmenden Hauptamtlichen kirchenfern sein bzw. einer anderen Konfession oder (keiner) Religion angehören sollten. Denn gerade über diese Institutionen behält die Kirche die Möglichkeit, ihre inhaltlichen Anliegen nicht nur über Personen, sondern auch in systemischen Vernetzungen wirkungsstark werden zu lassen. Umso mehr hat die Kirche dann die inhaltliche Qualität solcher Institutionen zu verantworten. Sie steht dafür, dass die gesamte Institution von ihrem Profilkern her jene Wertorientierungen vertritt, die das Handeln christlicher Diakonie bestimmen. Und sie steht dafür, dass aus anderen Weltanschauungen und Religionen Menschen, denen von der Intention und ihrer Berufswahl her das Soziale am Herzen liegt, entsprechende Institutionen finden, in denen sie nicht nur entsprechend handeln können, sondern wo sie auch mit ihrer Motivation und Spiritualität auch dann gefragt sind, wenn diese anders als christlich sind.

Hier kann sich dann eine interreligiöse Spiritualität ereignen, die ein dreifaches ermöglicht: erstens dass man aus verschiedenen religiösen Herkünften her am gleichen sozialen Handeln interessiert ist und dieses auch in einer möglichst humanen Weise ausführen will; zweitens dass man im Bereich der Motivation durch Glaube und Spiritualität Atmosphären vorfindet, in denen darüber gesprochen werden kann (aber nicht muss) und in denen die gegenseitigen Andersheiten anerkannt und geschätzt werden; und schließlich dass es vielleicht doch im Bereich von Glaubensmotivation und Spiritualität nicht zu verordnende, aber zu entdeckende Schnittmengen gibt, die es ermöglichen, auch im Bereich der Spiritualität Gemeinsames zu erleben und zu feiern (wie etwa in interreligiösen Gottesdiensten). Um das, was gemeinsam möglich ist, zu bebildern, sei ein Beispiel aus dem Kindergartenbereich genannt: auch muslimische Kinder können an Weihnachten die Geburt des Jesus feiern (und auch in Krippespielen mitspielen), den auch sie aus dem Koran kennen und sehr verehren. Sie werden dann in diesem Spiel jene sein, die die Geburt eines großen Propheten feiern.

Und da in allen Religionen über das Bestimmbare Gottes hinaus Gott Geheimnis bleibt, können zum Beispiel auch gemeinsame Gottesdienste gefeiert werden, in den man sich diesem Geheimnis gegenüber öffnet und betet. Aber auch im Bereich der Bestimmbarkeit Gottes gibt es bei aller Differenz zwischen den Religionen auch Überlappungen, wie etwa die Anrede des barmherzigen Gottes, die sich zumindest die drei monotheistischen Religionen gemeinsam leisten können. Hier wären gerade in karitativen Einrichtungen, in denen auch die transzendenzbezogene Gottesbeziehung explizit werden darf, neue Formen interreligiöser Glaubensvergewisserung möglich, mit neuen Ritualen und auch mit neuen gemeinsamen Texten, worin sich die Gläubigen unterschiedlicher Religionen wiederfinden können. So kommen die unterschiedlichen diakoniebezogenen Spiritualitäten der Religionen an einem ganz bestimmten Caritasort zum Austausch, auch dahingehend, dass vom oft umso intensiveren Glauben des Anderen der eigene Glaube neue Intensitäten gewinnt.

Auf diese Weise stellen die kirchlichen Diakonieorganisationen einen institutionellen Raum zur Verfügung, in dem sich Gläubige unterschiedlicher Religionen in der gemeinsamen Praxis zugunsten benachteiligter Menschen auch im Bereich ihres Glaubens selbst von jene Ambivalenzen zu befreien vermögen, die mit jedem Glauben ebenfalls verbunden sind. Derart hat der interreligiöse Dialog im Raum der Caritas eine von der Caritas selbst herkommende religionskritische Auswirkung, insofern zwischen den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen auch die Schattenseiten der je eigenen Glaubenswelten deutlich werden, die das diakonische Handeln bremsen oder gar verhindern können.

So wird die Diakonie zum Lernort für nichtintegralistische Glaubenserfahrungen, in denen Differenzen stehengelassen und ausgehalten werden genauso wie in denen das im Glauben Gemeinsame für die Diakonie spirituell aktiviert wird. Wichtig ist dabei, dass alle Beteiligten keine Angst vor Identitätsverlust haben müssen: einmal dadurch, dass die Atmosphäre so ist, dass man sich gegenseitig unterschiedliche Glaubensidentitäten gönnt; zum anderen dadurch, dass in den unterschiedlichen Glaubenswelten der Glaube so sehr als haltgebendes Geschenk erfahren wird, dass er gar nicht verloren gehen kann. Dazu gehört auch die Hoffnung, dass gerade die Praxis der Diakonie in sich selbst und aus sich selbst heraus entweder gnadenhafte Erfahrungen ermöglicht oder die Sehnsucht nach einer tragenden Spiritualität benötigt, so dass sich von daher eine transitorische Kraft auf den explizit-religiösen Bereich zu bewegt.

4. Christliche Praxisidentität der Institutionen

Dass diese Hoffnung nicht zuschanden wird, dafür allerdings braucht es eine ganz bestimmte Unternehmenskultur: Je offener in solchen Einrichtungen mit den Motiven und Glaubensanteilen der Beteiligten umgegangen wird, desto mehr kann auch der Glaube der christliche motivierten MitarbeiterInnen als etwas erfahren werden, was nicht indoktriniert, sondern aufhilft. Säkular ausgedrückt besteht darin die gemeinsame Arbeit an der »corporate identity«, an der inhaltlichen Identität einer Einrichtung, die ihrerseits strukturell abzusichern ist.

Dann stellt die Kirche eine Institution zur Verfügung, in der die diakonische Schnittstelle zwischen Kirche und Umwelt zu einer Nahtstelle wird, wo beides vernetzt wird, die kirchlichen Kräfte des Reiches Gottes mit den entsprechenden Kräften in der Gesellschaft und in anderen Religionen. In der institutionellen Verantwortung der Kirche liegt es, das inhaltliche Profil in den Strukturen dieser Institution zu gewährleisten und zu überprüfen. Ich plädiere deshalb nicht für den Rückzug der Kirche aus der Wohlfahrtsverantwortung, auch nicht für eine Reduktion dieser Verantwortung auf kirchliche Institutionen mit kirchenintern »sicheren« Gläubigen in der Hauptamtlichenriege, sondern für die möglichst weitgehende kirchliche Beibehaltung auch solcher Institutionen, die – um sich und ihren Auftrag realisieren zu können – auch auf »andere « Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen angewiesen sind.

Diese Angewiesenheit sei nochmals präzisiert. Sie bezieht sich in einem multireligiösen Kontext auch auf die Notwendigkeit, in den Institutionen auf die unterschiedliche Zusammensetzung der Klientelen auch hinsichtlich ihrer Religionszugehörigkeit zu reagieren. So dass zum Beispiel in einer kirchlichen Beratungsinstitution für muslimische Menschen auch muslimische Berater und Beraterinnen die Beratung umso qualifizierter und empathischer gestalten können. Es geht nicht nur um die Innenansicht der kirchlichen Caritasinstitutionen und ihren Selbsterhalt, sondern gegebenenfalls auch darum, welche neuen Herausforderungen von außen auf diese Institutionen zukommen, wie hier die veränderte Bevölkerungs- und damit Klientelstruktur. Hier spiegelt sich theologisch das Verhältnis von innen und außen, von Kirche und Reich Gottes wieder. Die Mitarbeit andersreligiöser Hauptamtlicher im Bereich der Diakonie sichert dann nicht nur den Erhalt der kirchlichen Institutionen, sondern auch den Erhalt ihrer theologischen Identität, nämlich im Sinne der Reich-Gottes-Beziehung zwischen innen und außen auf die Nöte aller Menschen, und zwar in ihrer Unterschiedlichkeit und Differenz, möglichst wirksam antworten zu können.

Fassen wir also zusammen: Der institutionelle Kern (einschließlich seiner »Unternehmensphilosophie «), der von Seiten der Kirche zur Verfügung gestellt wird, bleibt die tragende Initiative der jeweils angezielten Tätigkeit zugunsten bestimmter Menschen, und zwar unter der Beteiligung von dienstleistenden Menschen, deren Motivationen und Glaubenshintergründe bezüglich des vom Trägerschaftskern vertretenen Handlungszielen anschlussfähig sind. Hinsichtlich der Kirchen- bzw. Reich-Gottes-Bezogenheit derer, die in der Kirche (sei es in Pfarrgemeinden, sei es in Verbänden oder in Orden) haupt- oder ehrenamtlich im Bereich der Diakonie arbeiten, gilt dann die ad personam zu differenzierende Zuordnung:

a) Mit einem explizit christlichen Selbstbewusstsein ist ihr Handeln ein Handeln der Kirche für das Reich Gottes. Wenn Menschen diese Tätigkeit demnach von ihrem Glauben her verstehen, konstituieren sie Kirche durch kirchliches Handeln: sie handeln als Kirche.

b) Ohne dieses christliche Selbstbewusstsein ist ihr Handeln immer noch ein Handeln für das Reich Gottes. Und dafür weiß sich die Kirche selbst in den Dienst gestellt. In von der Kirche getragenen diakonischen Institutionen handeln sie mit der Kirche. Auch wenn diese Menschen nicht dem christlichen Glauben und der Kirche nahe sind, sind sie dann doch nicht fern vom Reich Gottes (vgl. Mk 12,34), das letztlich mehr ist als Kirche.

c) Dieses letztere Handeln ist selber nicht bereits kirchliches Handeln, sondern ein Handeln mit der Kirche zugunsten eines bestimmten gemeinsamen Zieles, das die Kirche von ihrer Identität her als Konkretion des Reiches Gottes begreift. Dies ist keine Vereinnahmung, sondern eine von der christlichen Identität herkommende Anerkennung und Verstärkung des anderen Menschen in seinem/ihrem Bereich und seiner/ihrer Allianzfähigkeit für das Reich Gottes, hier in der Diakonie mit und an den Menschen.

d) Dabei bleibt offen, ob sich nicht bei genauem Hinsehen gerade diese Anders-Denkenden bzw. -Gläubigen in ihrem Anderssein (uns zunächst fremde) unausgesprochene oder ausgesprochene spirituelle Motive und Transzendenzbeziehungen leben, die auch für die traditionelle Spiritualität der Kirche von Bedeutung und eine Bereicherung sein können, und ob nicht gerade ihre Widerstände gegen manche Glaubenspraxen der Kirche (und wie sie überkommen) unsere eigenen diesbezüglichen Fehlformen offenlegen. Auf diese Weise wird der gemeinsame diakonische Lebens- und Arbeitszusammenhang zur intensiven Erfahrungsbasis des interkonfessionellen und interreligiösen Glaubens-Dialogs.

5. Plurale Kontexte – Plurale Möglichkeiten


Gerade in Institutionen, wo andersgläubige Menschen sich zugunsten der Wohlfahrt anderer Menschen zusammentun, wird die Frage der damit zu verbindenden Spiritualität nicht weniger wichtig, sondern gewinnt in potenzierter Weise an Wichtigkeit, die auch ausgetauscht wird, wenn es dafür das entsprechende Klima in der betreffenden Institution gibt, wo nicht abgefragt, sondern zugehört wird; wo nicht belehrt, sondern ermutigt wird. Es gibt beeindruckende Zeugnisse für jene sensible Offenheit, die den Glauben andersgläubiger Menschen erspürt und dann entsprechende Begegnungen aufmacht, in denen bei diesen und dann vielleicht auch in einer neuen Weise bei den Christgläubigen selbst etwas von den lebendigen Spuren Gottes aus der gemeinsamen Arbeit herauswächst.

Die gemeinsame Arbeit in einem karitativen Team wird für alle Beteiligten zur Anregung, das eigene Schweigen gegenüber dem Thema Religion und Spiritualität zu überwinden und für den entsprechenden Austausch auch strukturell garantierte Zeiten zu gewinnen. Es ist davon auszugehen, dass alle in der Diakonie Tätigen tiefe spirituelle Erfahrungen machen. Nur wenn in einer nicht-moralistischen und nicht-hegemonialen Weise die Beteiligten die Spuren Gottes im Leben, Arbeiten und Leiden suchen und entdecken dürfen, wird im Bereich der Diakonie eine Spiritualität explizit werden, die aus dem diakonischen Lebenszusammenhang in authentischer Weise herauswächst.

Auch wenn es notwendige Arbeitsteilungen zwischen Martyria und Diakonia geben kann und muss, gehören beide in der gesamten Identität der Kirche zusammen. Ihre Verkündigung ist ein spezifischer Beitrag, das Leben, Arbeiten und Leiden der Menschen in den Horizont Gottes zu stellen und die Diakonie ins göttliche Recht zu setzen. Ohne diese Erinnerung würde die Kirche ihr Gedächtnis verlieren und damit auch die explizite Beziehung zu einem Mysterium, das den Menschen gut tut und Hoffnung schenkt. Deshalb muss es in der Kirche Sozialformen (z. B. Gemeinden) geben, wo beides zusammengehört (sonst zerfallen nicht zuletzt die gerade für die Anerkennung der außerkirchlichen Solidarität als »Reich Gottes« nötigen innerkirchlichen theologischen und spirituellen Grundlagen).

Eine solche Pluralität kann es durchaus auch im Caritasverband selber geben, auch je nach der Unterschiedlichkeit der Einrichtungen und der sozialen und kulturellen Kontexte. Einheitslösungen sind nicht anzuzielen, vielmehr geht es darum, Kriterien für unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten zu entwickeln und die Entscheidungen den Einrichtungen selbst zu überlassen, bis hin zu der möglichen Entscheidung, das katholische Profil einer karitativen Institution, unbeschadet ihrer Entgrenzung den Bedürftigen gegenüber, nicht auch noch in der hauptamtlich vollzogenen Entgrenzung der Diakonie zu finden. Im Gesamt der Diakonie sind solche Unterschiede bis Widersprüche auszuhalten und dürfen nicht zum Anlass gegenseitiger Herabsetzung oder gar Existenzbestreitung werden. Hier gibt es noch viel in und zwischen den Kirchen, aber auch in und zwischen den Wohlfahrtsverbänden an Pluralitätsfähigkeit zu lernen.

6. Kriterien


Auch wenn jede Organisation der Caritas noch einmal in ihrem eigenen Kontext eigene Perspektiven entwickelt, kann man doch vielleicht mit einer gewissen Allgemeingültigkeit formulieren: Analog dazu, wie es bisher schon meistenteils der Fall ist, nämlich dass das im Institutionsziel benötigte Handeln von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen mit mehr oder weniger expliziter Spiritualität oder Religiosität ausgeführt werden kann, kann dies auch im interreligiösen Bereich ähnlich gesehen werden: nämlich dass auch hier das allererste Kriterium immer die Handlungsebene im Sinn der Institution darstellt. Wenn das Handeln stimmt, kann im Bereich der impliziten oder expliziten Spiritualität ziemlich viel Beweglichkeit sein, von Menschen, die weniger darüber reden können und wollen, zu Menschen, die sich danach sehnen.

Allerdings wird man bei Einstellungen auch darauf schauen, dass extrem fundamentalistische und exklusivistische Haltungen, gepaart mit aggressivem Missionsdruck, weder für die Diakonie noch für einen zurückhaltenden bis offenen Austausch der Spiritualitäten geeignet sind. Von unserer Seite muss man mit einiger Hoffnung sagen können: Weil du in der Tat unterstützt, was bei uns Reich Gottes genannt wird, bist du bei uns willkommen und wir sind neugierig zu hören, welche Würde dieses Handeln in deinem eigenen Glauben besitzt.

Für den interreligiösen Bereich würde das bedeuten: dass zum Beispiel in Bewerbungsgesprächen zuerst nach der professionellen Handlungskompetenz zu fragen ist, dann aber auch nach der Intention, in der mit Menschen (Kollegen und Kolleginnen wie auch mit der Klientel) umgegangen wird. Diese Intention muss nicht unmittelbar spirituell oder religiös sein. Im Bewerbungsgespräch sollte aber diese Intention thematisiert werden, sei es als »Philosophie« der Caritasinstitution, sei es als Humanisierungsintention von Seiten der Personen.

Die Frage nach der interreligiösen Offenheit und nach der Thematisierung von Spiritualität kann ebenfalls gestellt werden, aber mit dem Bewusstsein, dass hier die Institution selber in der Verantwortung steht: im Profil ihrer inhaltlichen Achse, im Klima der Institutionen, in der Zusammenarbeit der MitarbeiterInnen, in der spezifischen Art, wie die Betroffenen in der Diakonie gefragt sind, in der politischen Verantwortung und nicht zuletzt im spirituellen Austausch der Mitarbeiterinnen. Letzterer ist genauso wünschenswert wie er nicht auf der Fertigkeits- und Postulatebene herstellbar ist. Man kann in Bewerbungsgesprächen eine bestimmte Öffnung dafür ansprechen, muss es aber den Prozessen in der Institution überlassen, wie weit solche Begegnungen tatsächlich möglich und bereichernd sind. Der interreligiöse Dialog in der interreligiösen Caritas ist keine Einstellungsforderung, sondern ihre Auswirkung.

Gerade muslimische Gläubige reden oft nicht leicht über ihren eigenen Glauben, sondern leben ihn in Selbstverständlichkeit. In der Dienst- und Arbeitsgemeinschaft der Caritas (insofern sie um der Diakonie willen im multikulturellen Kontext keine Glaubensgemeinschaft ist) kann es also keine krampfhafte interreligiöse Dialogpflicht geben. Die gemeinsame Arbeit bewegt auch ohne diese Ausdrücklichkeit ein handlungsbezogenes Gefühl der Gemeinsamkeit, das für den eigenen Glauben nicht ohne Wirkungen ist. Das Band der gemeinsamen diakonischen Verantwortung ist ohnehin so stark und konkret, dass man nicht darauf angewiesen ist, sich im interreligiösen Dialog zu verstehen. Vielmehr wächst aus der Notwendigkeit interreligiöser Praxis in gemeinsamer sozialer Verantwortung ein »Verstehen« eigener Art.

7. Interreligiöse »Ökumene« des sozialen Dienstes

Es geht um die Bedeutung des konkreten Zusammenarbeitens, überhaupt auch des konkreten Zusammenlebens in anderen Bereichen, für die Möglichkeit und die zu akzeptierende Grenze des Verstehens. »In einer globalisierten Welt werden nie alle alles verstehen können, egal wie viele Dialogbemühungen es gibt. Das Verstehen kann also letztlich nicht die Bedingung der Anerkennungen eines friedlichen Miteinanders sein. Auch was nicht verstanden wird, darf in seiner Existenz nicht gefährdet sein. Die Anerkennung der Anderen als Andere gilt es einzuüben!« Insgesamt gilt umgekehrt für den interreligiösen Dialog, dass er in der elitären oder massenmedial sehr vergesslichen Luft hängt, wenn er keinen konkreten Lebens- bzw. Arbeitsbezug hat: »…auch der interreligiöse Dialog bedarf kontextueller Verortung und hat dann seine je eigene Agenda, die sich auch, wenn nicht vornehmlich, um die politischen, ökonomischen und strukturellen Bedingungen von Konflikten drehen muss.«

Es ist ja immer schon viel, wenn Gläubige unterschiedlicher Religionen in ihrer eigenen Identität die religiöse Wertschätzung dessen auffinden, was sie zusammen mit Andersgläubigen tun. Im Bereich der Diakonie gibt es dafür in allen Religionen entsprechende Ressourcen, vor allem auch im Islam. »Die Bedeutung des Begriffs Dschihad im Quran liegt im intensiven Bemühen, leidenschaftlich und nachhaltig für etwas Gutes einzutreten. Die Armen zu speisen, Obdachlose zu beherbergen, Institutionen für die Unterstützung der Bedürftigen zu errichten, Schulen und Ausbildungsstätten zu gründen, gelten nicht nur als gute Tat, sondern als religiöse Verpflichtung.« So wirft der diakonische Blick ein anderes Licht auf den Dschihad-Begriff als er in den gegenwärtigen Massenmedien und im gesellschaftlichen Bewusstsein gängig ist.


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